20. November
Florian
Verstohlen blickte er auf die Wanduhr und unterdrückte ein Gähnen. Gestern hatte ein Sechzigjähriger seinen Geburtstag bei ihnen im Hotel gefeiert, eine Gruppe von zwanzig Personen, die Küche war länger als normal offen geblieben, und nach vier Stunden Schlaf hatte sein Kollege ihn wachgeklingelt, er möge bitte die Frühstücksschicht übernehmen, weil er mit Schüttelfrost im Bett liege. Im Bett liegen wollte Florian jetzt auch, am liebsten allein, um einfach zu schlafen, aber stattdessen stand Emma im Wohnzimmer seiner Eltern und quasselte auf ihn ein, als ob es kein Später gäbe. Es rauschte dumpf in seinen Ohren und er verstand nur jedes zweite ihrer Worte.
»Hm«, sagte er, »aha«, nickte und griff nach einer Mandarine, die in der Schale auf dem Couchtisch lag, zwischen Erdnüssen und diesen grässlichen mit Aprikosenmarmelade gefüllten Lebkuchenherzen. War nicht erst Mitte November? »Früher konnte es dir nie früh genug sein«, hatte seine Mutter geantwortet, als er sie vor einigen Tagen fragte, warum sie die Weihnachtsdeko jetzt schon aus dem Keller geholt hatte. Früher, da war er auch ein Kind gewesen. Jetzt war er Mitte zwanzig. Und ja, er wohnte immer noch daheim, warum nicht? Emma wollte gern mit ihm zusammenziehen, aber sie studierte noch, sollte er dann die ganze Miete zahlen? Obwohl, wenn er so recht überlegte, hatte sie das Thema seit Längerem nicht mehr …
»Findest du auch, Flo?«
»Aha«, antwortete er, grub seinen Daumennagel in die weiche Schale, ein bisschen Saft spritzte heraus. Der erfrischende Duft belebte ihn ein wenig, und in der Stille, die plötzlich im Raum lag, dämmerte ihm, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Langsam zog er an der Schale, so ein befriedigendes Geräusch. Er war doch einfach nur müde.
»Hast du mir überhaupt zugehört?« Emma keuchte empört. Das konnte sie gut. Sie war so liebenswert, so hübsch, sie konnte dank ihres braunen Gürtels in Judo jeden Typen vermöbeln und dank ihrer Intelligenz selbst mit seinem Vater mithalten. Aber wenn sie empört war, dachte er und legte die halb geschälte Mandarine ganz langsam auf den Tisch, dann war fertig lustig. Und sie empörte sich in letzter Zeit über vieles, fand er, über vieles mehr als früher, was ihn direkt wieder zu dem vorherigen Gedanken brachte. Hatten diese Gereiztheit und die Tatsache, dass sie ihr Zusammenziehen nicht mehr erwähnte, etwas miteinander zu tun? Das Dröhnen in seinen Ohren wurde gleich noch etwas lauter.
»Hallo? Erde an Florian?« Seine Freundin wedelte hektisch vor seinem Gesicht herum, er wischte ihre Hände unsanfter zur Seite, als er vorgehabt hatte.
»Lass das.«
»Geht’s noch?« Ihre Stimme wurde schrill. »Ich erzähle dir, dass meine Schwester heiraten wird, und du sitzt da wie ein Zombie! Bin ich dir so egal? Interessiert dich mein Leben gar nicht?« Jetzt schlichen sich Tränen in ihre Worte, und er wusste, er sollte aufstehen, sie in eine Umarmung ziehen, sich entschuldigen.
»Ich habe vier Stunden geschlafen«, sagte er stattdessen patzig. »Eben wollte ich mich hinlegen, weil ich um fünf bereits wieder in der Küche stehen muss, ich bin hundemüde, und du platzt einfach hier rein nach deiner entspannten Vormittagsvorlesung, ohne auch nur zu fragen, ob’s mir passt, und dann heulst du mir die Ohren voll? Geht’s noch bei dir?«
Emma starrte ihn an, blinzelte dann, als ob sie sich erhoffte, dadurch ein klareres Bild der Situation zu erlangen. Dabei löste sich eine Träne aus ihren Wimpern und lief ihr über die Wange. Früher, ach was, früher – noch vor ein paar Wochen hätte sie einen dummen Spruch gebracht, damit sein zugegebenermaßen manchmal etwas aufgeblasenes Ego wieder Land unter die Füße bekam. Aber jetzt blieb sie stumm und heulte, und das machte ihm plötzlich Angst.
»Was ist denn los mit dir?«, fragte er versöhnlich und stemmte sich umständlich aus der Couch hoch.
»Mit mir? Nichts.«
»Nichts?« Er ließ sich wieder sinken. »Wie, nichts?«
»Was soll schon sein? Außer, dass mein Freund sich seit Wochen für nichts mehr interessiert, was ich ihm erzähle, dass er nicht mit mir zusammenziehen will, weil er lieber wie ein Schmarotzer bei Mami und Papi lebt, und jetzt …«
»Seit Wochen? Du bist doch seit Wochen so komisch drauf! Das ist nicht mehr die Emma, in die ich mich verliebt habe!«
»Ach nein? Und was, willst du jetzt Schluss machen?«
»Willst du denn Schluss machen?«
Die letzten zwei Sätze hingen wie dunkle Wolken zwischen ihnen, und während sie sich nur langsam auflösten, sah Florian Emma erschrocken an und sie musterte ihn bestürzt.
»Nein«, sagten sie dann beide gleichzeitig, und Flo sprang auf, plötzlich hielt ihn nichts mehr auf dem Sofa, zwei Schritte, dann stand er vor Emma und zog sie endlich in diese Umarmung, die schon vor fünf Minuten fällig gewesen wäre.
»Tut mir leid, Süße«, murmelte er. Es dauerte noch ein paar lange Sekunden, bis Emma ihren Kopf an seine Brust lehnte. Was war er doch für ein Vollidiot. Emma war wunderbar, er musste sich zusammenreißen, und auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, in den vergangenen paar Wochen weniger Interesse oder Zeit für sie aufgebracht zu haben, entschuldigte er sich. »War echt viel los in der Arbeit. Du weißt, da werde ich manchmal …«
»Zum Arsch.«
Nein, das war doch etwas zu heftig, fand er, aber er wollte Emma nicht widersprechen. »Ja, genau. Verzeih mir. Lass uns gleich am Wochenende anfangen, eine Wohnung zu suchen, okay? Und was war mit deiner Schwester?« Die bleierne Müdigkeit war einer elektrischen Schärfe gewichen; er hatte das Gefühl, gar nicht mehr stillstehen zu können. Ihr Duft raubte ihm den Verstand, er liebte sie doch, seine Emma, und sie liebte ihn, ganz sicher, so wie sie sich an ihn schmiegte und ihm jetzt ihren Mund hinhielt.
»Erzähle ich dir nachher«, nuschelte sie an seinen Lippen und fuhr mit ihrer Hand unter sein Shirt.
Im Halbschlaf bemerkte er, wie Emma aufstand. Wohlig drehte er sich in die warme Kuhle, die ihr Körper hinterlassen hatte. Das Wasser im Bad rauschte, oder war es Regen, der an die Scheibe prasselte? Novemberwetter … Ob es dieses Jahr überhaupt vor Weihnachten schneien würde? Eine gedämpfte Melodie erklang aus dem Kleiderhaufen vor dem Bett, es war Emmas Telefon. Träge streckte er den Arm unter der Decke hervor, kam aber nicht dran.
»Dein Telefon hat geklingelt«, sagte er, als sie kurz darauf aus dem Bad kam, der vorhin noch verschmierte Lippenstift akkurat neu aufgetragen, die vor Lust geröteten Wangen sanft gepudert.
»Ach?« Sie zog es hervor und sah nach. »Deine Mutter. Hm. Sie hat Fotos geschickt …«
Es klingelte erneut. »Hallo Hanna!«, rief Emma fröhlich. In den zwei Jahren, die er mit ihr zusammen war, war sie zur besten Freundin seiner Mutter mutiert. Wahrscheinlich telefonierten die beiden öfter als er mit Emma, dachte er belustigt.
»Die gelbe oder die weiße Jacke, meinst du?«
Seine Mutter war mittlerweile auf Lautsprecher. »Ja, ich kann mich nicht entscheiden, Liebes, du hast so einen tollen Geschmack und ich möchte gut darin aussehen.«
»Du siehst immer gut aus, Hanna«, schmeichelte Emma und seine Mutter lachte entzückt.
»Hach, du bist ein Goldstück, Liebes. Thomas hat mir zum Hochzeitstag ein Wochenende im Engadin geschenkt, im Dezember, weißt du? Und ich habe keine so dicke Jacke, ich geh doch sonst nie in die Berge.«
»Wie aufmerksam von ihm, was für ein schönes Geschenk«, sagte Emma, und dachte er das nur oder warf sie ihm einen schrägen Blick zu, als wollte sie ihm sagen, er solle sich ein Beispiel nehmen?
»Dann unbedingt die gelbe«, murmelte er halb ins Kissen. »Damit sie nicht im Schnee verloren geht.«
»Was hast du gesagt, Liebes?«, fragte seine Mutter.
Emma schmunzelte und streckte ihm die Zunge raus. »Die weiße, Hanna, die weiße!«