6. Dezember
Tania
Clémi hatte ihr doch tatsächlich einen Schokolade-Samichlaus vor die Zimmertür gestellt, bevor sie morgens aus dem Haus gegangen war. Tania überlegte, ihm sofort den Kopf abzubeißen, noch vor dem eigentlichen Frühstück, noch vor der Dusche. Sie riss an der Folie und roch. Es war nicht die beste Schokolade; ihre Mutter hatte immer Nikolause von Lindt gekauft. Ihre Mutter hatte auch immer am 6. Dezember einen Teller mit Erdnüssen gefüllt, Mandarinen dazugelegt, Walnüsse und Datteln, Schokoladentaler, kleine Lebkuchen, Zimtsterne, mit Marmelade gefüllte Spitzbuben und Vanillekipferl, alle Guetzli von der Konditorei, weil sie selbst keine Zeit hatte, zu backen. Und wenig Talent, musste Tania zugeben und fragte sich im selben Moment, warum sie schmunzelte. Warum sie überhaupt an ihre Mutter dachte, und dann auch noch an die schönen Erinnerungen. Wütend biss sie in den Kopf des Nikolauses; die Schokolade war viel zu süß und ein bisschen sandig von der Konsistenz her, bäh! Mühsam kaute und schluckte sie und freute sich bereits aufs Zähneputzen. Sie war kein Kind mehr, das einen Adventskalender brauchte, das aufgeregt beobachtete, wie lange es dauerte, bis die Wärme der Kerzenflammen die darüber schwebenden Engel dazu brachte, sich im Kreis zu drehen und mit ihren Stäbchen die Glocken zum Klimpern zu bringen. Das heimlich Plätzchen naschte und aufgeregt mit der Mutter die Wohnung dekorierte, mit den wunderschönen handbemalten Christbaumkugeln der Großeltern, die so furchtbar zerbrechlich waren, dass man sie nur mit größter Ehrfurcht behandeln konnte. Sie war kein Kind mehr und sie brauchte all diesen Kram nicht mehr, sie brauchte auch keine Mama mehr, und doch kroch ihr die Wehmut salzig in die Augen.
Sie beschloss, kalt zu duschen, um die Sehnsucht nach Mutterliebe schockzufrosten.
Seit sie ausgezogen war, ernährte sich Tania vorwiegend vegetarisch, abgesehen von einem Döner hin und wieder oder einem Sandwich mit Salami. Kein Wunder, bei den Preisen konnte sie sich das einfach nicht leisten, dachte sie entsetzt, als sie dreihundert Gramm Rindshuftsteak über den Scanner zog. Fast dreiundzwanzig Schweizer Franken! Früher, als ihr Vater noch bei ihnen gewohnt hatte, hatte der an Weihnachten immer einen Rinderschmorbraten gekocht, nach dem Rezept seiner Mutter, derselben, die ihm auch die Christbaumkugeln vermacht hatte, die er bei der Scheidung gnädigerweise Tania überlassen hatte. Das war so ziemlich das Einzige, was sie noch von ihm besaß, das und elf Geburtstagskarten, eine jedes Jahr. Seit der Trennung aßen Tania und ihre Mutter an Weihnachten immer Buchstabensuppe, wobei sie aus den Buchstaben Mikrogeschichten formten, und danach gab es Wiener Würstchen mit Kartoffelpüree. Hatten gegessen, korrigierte sich Tania, zog eine Sechserpackung Zweiliterflaschen Cola über den Scanner und nannte dem Mann den Preis. Während der seinen Kartencode eingab, inspizierte sie die Menschenmenge. Feierabendandrang. Die Ware der nächsten Kundin schubste bereits gegen ihren Arm, Feuchttücher, Babynahrung, Schokolade. Sie mochte die Arbeit an der Kasse; sich anhand der Einkäufe ein Bild von den Personen zu machen, war eine interessante Sozialstudie.
»Goht’s au es bitz schnäller?«, fragte die Frau sichtlich gereizt, eine Hunderternote bereits in der Hand, nein, kleiner habe sie es nicht, eilig hingegen schon. »Mein Zug fährt gleich, also bitte.«
Fehlte nur noch das Hopp-hopp, dachte Tania und klaubte die Rappenstücke aus der Kasse, als sie das Lachen hörte. Simons Lachen. Ruckartig drehte sie sich um, und ja, dort stand er und schäkerte mit einer anderen Mitarbeiterin. Die Haare waren länger, das künstliche Licht betonte seine Tränensäcke und der gepflegte Fünftagebart ließ ihn ganz anders aussehen als früher. Tanias Herz pumpte schmerzhaft, mit zittrigen Fingern drückte sie der Kundin ihr Rückgeld in die Hand, sie hörte, wie die Geldstücke auf den Boden fielen, hörte, wie die Frau keifte, und sah, wie Simon die Papiertragtasche mit den Weihnachtsmotiven packte.
»Simon«, rief sie. Er war es, er war hier, er war so nah, sie musste einfach mit ihm sprechen, ihn anfassen, ihn riechen, das war ihre Chance, ihre Gedanken überschlugen sich. »Simon, warte!«, rief sie noch einmal und schlängelte sich an den Kunden der Expresskasse vorbei, spürte ihre irritierten Blicke, so warte doch, wollte sie noch einmal rufen, da drehte er sich um, suchend, findend – nur, um in einen Laufschritt zu verfallen und durch die Menge fortzueilen.
»Frau Weber!«
Sie fühlte sich aus einer anderen Realität zurückgerissen.
»Sind Sie noch bei Sinnen? Sie haben nicht nur Ihre Kasse im Stich gelassen, sondern noch dazu die Geldschublade offen gelassen! Ich habe Sie gewarnt, das ist Ihr dritter Verweis, morgen brauchen Sie gar nicht erst zu kommen.«
Ihr war schlecht. Zwei Tafeln Billigschokolade in Form des Nikolauses lagen ihr schwer auf dem Magen. Simon lag ihr schwer auf dem Magen. War er davongerannt, weil er seinen Zug erwischen musste? Vielleicht denselben wie die motzende Frau? Oder war er abgehauen, weil … er nicht … mit ihr …
»Verdammt, Simon!« Sie schlug in ihr Kissen, um den Frust zu kanalisieren, um nicht zu weinen, aber die Tränen waren stärker. »Verdammt, Mama!« Warum hatte sie sich einmischen müssen? Wusste ihre Mutter nicht selbst, wie weh es tat, wenn man seine große Liebe verlor? Hatte sie nicht auch ihrem Mann hinterhergeweint, als ihre Ehe in die Brüche ging?
Eine der Katzen kratzte an ihrer angelehnten Tür und schob sich ins Zimmer. Tigris.
»Ps, ps«, lockte Tania sie zwischen Schniefen und Schluchzen. Eine Katzenumarmung, das war es, was sie jetzt brauchte, aber Tigris beäugte sie nur arrogant und verschwand wieder in den Flur. Blödes Vieh. Tania angelte nach einem Papiertaschentuch, schnäuzte sich und warf das zerknüllte Tempo in den Papierkorb. Dort, wo immer noch die Fetzen des Briefes lagen, den ihre Mutter ihr geschrieben hatte. Sie schnaubte. Hashtag Hüttengaudi. Jetzt hatte sie auch keine Arbeit mehr, die ihr als Ausrede dienen könnte, nicht zu fahren. Und wenn ihre Mutter ihr Herz erleichtert hätte, könnte sie sie vielleicht um ein wenig Geld anhauen. Tania fuhr sich noch einmal mit dem Ärmel über das Gesicht, um die restlichen Tränen zu trocknen. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, zu hören, was ihre Mutter als Entschuldigung vorzubringen hatte. Und danach, das schwor sie sich, würde sie Simon zurückerobern.