1. Dezember
Tania
Verwundert drehte Tania den Umschlag in der Hand hin und her. Kein Absender, Adresse auf eine Etikette gedruckt, könnte ein Werbebrief sein, aber stünde dann nicht zumindest ein Logo auf dem Kuvert? Eine leise Vorahnung beschlich sie, während sie mit dem Finger unter den Schlitz fuhr und das Papier unsanft aufriss.
»Na, was ist das? Ein Liebesbrief von einem Verehrer, dessen Sinn für Romantik ungefähr so eingetrocknet ist wie deiner?«, witzelte Clémentine und ließ sich in einem Gewirr aus fliegendem Schal, Mantel und Pudelmütze aufs Bett plumpsen.
»Haha«, entgegnete Tania mürrisch und las die Zeilen, die im Gegensatz zur Adresse sehr wohl von Hand geschrieben waren. In einer Schrift, die sie nur zu gut kannte.
»Nein? Was dann, eine Lösegeldforderung für deinen verschwundenen Humor vielleicht?«
Tania ließ den Brief sinken und sah ihre Mitbewohnerin mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich hatte mal einen Verehrer, wie du dich vielleicht erinnerst. Und dieser Wisch hier ist von der Person, die alles kaputt gemacht hat.« Sie wedelte mit dem Bogen Papier auf und ab, als ob es den Zorn, der während des Lesens in ihr aufgestiegen war, abkühlen könnte.
»Ah, deine Mutter.« Clémentine nickte wissend, wickelte sich den langen Schal vom Hals und warf ihn achtlos auf den Boden. »Was will sie denn, so formell und offiziell?«
Im Treppenhaus jagten die beiden Kinder der Nachbarn im dritten Stock johlend und schreiend die Stufen runter und Tanias Kopfschmerzen verstärkten sich. Mit einem müden Seufzer reichte sie Clémentine das Schreiben, die aus dem Mantel schlüpfte, sich die Stiefel abstreifte und im Schneidersitz hinsetzte. Der Bommel ihrer Pudelmütze wippte bei jeder Bewegung fröhlich mit, und kurz wallte in Tania das Bedürfnis, Clémi das Ding vom Kopf zu reißen, auf wie brodelndes Wasser. Sie atmete tief ein und wieder aus. Ihre Mutter übte diesen Effekt auf sie aus, sie erzeugte diese Wut, diese Wallungen. Zumindest seit ihrer Aktion, aus der sie sich jetzt irgendwie herauszuwinden versuchte. Ganz automatisch griff Tania nach ihrem Telefon, tippte den Bildschirm an und betrachtete das Foto, ein Selfie von Simon und ihr, im Hintergrund der glitzernde Zürichsee, Spätherbst. Ein paar Wochen später war alles vorbei gewesen. Und noch bevor ihr Gehirn überhaupt den Befehl dazu hätte gegeben haben können, scrollte sie sich durch die Fotogalerie, sie und Simon hier, sie und Simon dort, wie gut er aussah. Wie gut er gerochen hatte. Wie gut sie zusammengepasst hatten … Der Schmerz fraß selbst nach einem Jahr noch schwarze Löcher in ihr Herz.
»Meine liebste Tania«, las Clémi laut vor, als ob Tania die Zeilen nicht soeben gelesen hätte. »Vielleicht hat mein Trick ja funktioniert und deine Neugierde hat dich den Brief öffnen lassen. Nachdem du meine Anrufe wegdrückst und meine Nachrichten ignorierst, sobald du meinen Namen siehst, musste ich zu diesem Manöver greifen, verzeih mir. Höflich ist sie ja schon, deine Mutter«, unterbrach sich Clémentine selbst, und sogar aus dem Augenwinkel sah Tania, wie der bunte Bommel bommelte, so verzückt wackelte ihre Freundin hin und her. Sie war eine alte Klatschtante, und der Streit zwischen Tania und ihrer Mutter stellte ein gefundenes Fressen für sie dar. In Momenten wie diesen mochte Tania sie ein klitzekleines bisschen weniger als sonst.
»Ich möchte dich gern einladen, mein Kind. Drei Tage in den Bündner Bergen, ein schnuckeliges Chalet, verschneite Landschaft. Vorweihnachtsgefühl. Endlich reden, die Herzen erleichtern. Es ist an der Zeit, abzuschließen. Komm, ich bitte dich. Freitag, 15.12., ab vierzehn Uhr warte ich an der untenstehenden Adresse auf dich.«
Clémi legte den Brief zur Seite und zog endlich ihre Mütze aus, gerade noch, bevor Tania zur Schere greifen konnte, um den blöden Bommel abzuschneiden. »Wow, das klingt doch großartig! Raus aus der grauen Stadt, rein ins weiße Vergnügen. Was meinst du?«
»Was ich dazu meine? Das kling nach Einschleimen. Schnuckeliges Chalet. Abschließen«, äffte sie ihre Mutter nach. »Die Einzige, mit der ich abschließen will, ist sie.«
»Vielleicht klingt es aber auch nach einer Entschuldigung? Einem Friedensangebot? Immerhin ist schon ein Jahr vergangen und du … Also … Immerhin …«, stotterte Clémi, die sich unter den Blicken, mit denen Tania sie bedachte, sichtlich unwohl fühlte. »Immerhin ist sie deine Mutter.«
Tania knallte das Handy auf den Schreibtisch. »Ich bin schon dreiundzwanzig. Ich brauche keine Mutter mehr.« Dann beugte sie sich nach vorn, packte den Brief, zerriss ihn und warf die Fetzen in den Papierkorb. Ein paar flatterten daneben auf den Fußboden. »Außerdem kann ich Euphrat und Tigris nicht einfach allein lassen.« Sie wies mit dem Kopf auf den getigerten Kater, der sich ausgiebig am Türrahmen rieb, bevor er ihr elegant auf den Schoß sprang. Sanft liebkoste sie die feinen Öhrchen, kraulte seinen Kopf, bis er zufrieden brummte und schnurrte und in ihr drinnen alles wieder ein bisschen harmonischer aussah. Wer brauchte überhaupt irgendwas auf dieser Welt, wenn man Katzen hatte?
»Das klingt nach Ausrede, Tania.«
Die Harmonie in ihr zerbröselte, als würden die Nachbarsjungen mit ihren dröhnenden Stiefeln darüberrennen.
»Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«, fragte sie ungehalten. Euphrat machte einen Abgang; die Wärme, die er ihr kurz gespendet hatte, verpuffte. »Außerdem muss ich bestimmt arbeiten.«
»Ich steh auf gar keiner Seite«, gab Clémentine spitz zurück, rückte dann aber näher und legte ihr versöhnlich die Hand aufs Knie. »Aber du solltest aus deiner Selbstmitleidshöhle rauskommen und dein Näschen wieder in die Sonne des Lebens stecken. Ich meine, wer verzichtet schon freiwillig auf ein gratis Ferienwochenende im Schnee? Hashtag Hüttengaudi, Après-Ski, heiße Snowboardlehrer … Also ich wäre sofort dabei. Vielleicht könnte ich ja …?«
»Vergiss es! Du musst auf meine Kätzchen aufpassen«, meinte Tania und musste entgegen ihrem Willen schmunzeln. Hashtag Hüttengaudi. So sprach auch nur Clémi.
»Heißt das, du gehst?«
»Ich werde es mir zumindest überlegen. Und jetzt raus hier, ich muss lernen.«