15. Dezember
Tania
Als Tania hinter Emma in die Kaminstube getreten war, hatte die sprichwörtlich dicke Luft darin sogar den warmen Schein des Feuers und der Kerzen gedämpft. Aber nach diesem ersten eigenartigen Moment hatte sich das Abendessen zu einem gemütlichen Beieinander entwickelt, bei dem nach kurzer Zeit alle gelöst mit- und durcheinander redeten. Vielleicht hatte Chasper etwas in diese Suppe getan, fragte sich Tania und öffnete unauffällig den Knopf ihrer Hose. Sie war mehr als satt, aber das Essen hatte fantastisch geschmeckt. Die Cranberry-Orangen-Butter würde sie zu Hause versuchen, nachzumachen, das schwor sie sich.
Erstaunt hatte sie jedoch zur Kenntnis genommen, dass ihre Mutter wohl von allem nur eine halbe Portion bestellt hatte; würde es ihr nicht guttun, mehr zu essen, so mager, wie sie war? Und war das wirklich Sorge, die diese beständig leise vor sich hin köchelnde Wut auf eine fast erträgliche Temperatur abkühlte? Kühl genug, um Rebekka nicht komplett zu ignorieren, aber doch nicht so kalt, um locker-flockig wie das Schneegestöber vor dem Fenster mit ihr zu kommunizieren. Es wartete immer noch ein Gespräch auf sie, auf das sie so gar keine Lust hatte. Dafür sorgte Martha für Lacher, indem sie versuchte, Schweizerdeutsch zu sprechen, obwohl sich ihre Zunge bereits nach einem Glas Wein verknotet hatte, und Emma bewies Talent dafür, den Smalltalk stetig am Laufen zu halten und alle mit einzubeziehen, das war Tania bereits in der Beiz aufgefallen. Sogar diese Kati, die etwas angesäuert ganz am Rand saß, steuerte hin und wieder ein Lächeln bei. Nur Florian war ruhig, ruhiger als noch am Nachmittag, fand Tania, beinahe in sich gekehrt, als versuchte er, irgendetwas mit sich selbst auszumachen, ohne genau zu wissen, was. Als er ihr den Brotkorb hingehalten hatte, war er ihrem Blick ausgewichen, als fürchtete er sich davor, ihr damit eine Nachricht zu schicken, die besser geheim bleiben sollte, und noch bevor sie es verhindern konnte, prickelte die Wärme wieder durch den Winter ihres Herzens. Vergiss es, wies sie es in seine Schranken.
»Alles in Ordnung?«, fragte Chasper und sammelte die Teller der Nachspeise ein.
»Hervorragend«, lobte Florian. »Ich würde zu gern wissen, wie Sie dieses Eis anfertigen.« Beim Thema Essen kam wieder Leben in ihn, und Tania fragte sich belustigt, wie es sein konnte, dass sich Chasper ihnen mit Vornamen vorgestellt hatte und nun der Einzige war, der noch gesiezt wurde.
»Setzen Sie sich doch zu uns«, bat ihre Mutter und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Der Abwasch kann warten.«
Wie witzig. Oder peinlich. Tania verdrehte die Augen nur zur Hälfte, dann sah sie, dass Chasper sie beobachtete, und zuckte verlegen zusammen. Sie sah aber auch, wie Kati wiederum Chasper verstohlen taxierte, dabei einen noch verstohleneren Blick zu Martha warf, als hätte sie Angst vor deren Reaktion, und wie Chasper sein Gewicht kaum sichtbar von einem Bein auf das andere verlagerte, entweder aus Unbehagen oder Nervosität oder beidem zusammen. Es lag ein seltsames Kribbeln in der Luft, fand Tania und konnte sich keinen Reim drauf machen. Aber dann lächelte er höflich, stellte den Tellerstapel auf die Anrichte hinter ihm und nahm die zwei Platten voller Plätzchen, die dort standen, um sie zwischen die Tischdeko zu stellen. Dann setzte er sich neben Tania.
»Ein Minütchen«, sagte er, und dann: »Nein danke, keinen Wein für mich«, als Florian ihm einschenken wollte. Dabei berührte dieser Tania am Arm; eine Hitzewelle wallte von dem Punkt aus durch ihren ganzen Körper und wieder zurück. Sie zwang sich, an Simon zu denken, sah zum Fenster und dachte sich in den kalten Schnee, an die eisige Luft, und erwischte ihre Mutter dabei, wie sie sie beobachtete, traurig, verletzlich. Auf einmal überkam Tania das Bedürfnis, sie zu umarmen, festzuhalten, weil sie aussah, als wäre sie dabei, sich in Luft aufzulösen. Blödsinn, schimpfte sie in derselben Sekunde und schüttelte den Kopf. Das war nur das Flackern der Kerzen, der Wein, ihr schlechtes Gewissen.
»Frau Gerber, nicht wahr?«, fragte Chasper in Emmas Richtung. Sie nickte. »Wollen Sie nicht mit Frau Weber den Platz tauschen, damit sie sich besser mit ihrer Mutter unterhalten kann?«
Emma, einen Zimtstern fast im Mund, drehte ruckartig den Kopf hin und her, errötete tatsächlich. »Natürlich, tut mir leid, ist mir gar nicht …«
»Ich kann das schon für mich selbst entscheiden«, warf Tania ein. Aber Emma hatte sich schon erhoben und umrundete den Tisch, und Florian rutschte ein Stück von ihr weg, damit sie ihre Beine über die Bank schwingen konnte. Hatten sich alle heimlich gegen sie verschworen. Sie presste die Lippen aufeinander und leistete dem Befehl Folge.
»Tut mir leid«, flüsterte ihre Mutter, als sie sich neben sie auf die Bank gequetscht hatte. »Es soll kein Zwang sein.«
»Mama, dass ich überhaupt hier bin, entstand schon unter Zwang«, murmelte sie zurück, ohne sie anzuschauen, und stupste eine der goldenen Kugeln an, die zur Dekoration auf dem Tisch lagen. »Kannst du dich einfach entschuldigen, damit wir es hinter uns bringen?« Sie schielte zu Martha, die gegenüber saß, aber die schien sich nicht um ihr Getuschel zu kümmern, sondern beobachtete sichtlich fasziniert das Schneetreiben. Ob sie darauf wartete, dass der Weihnachtsmann auftauchte? Ein Reh zum Fenster reinschaute?
»So einfach ist es nicht, Tania.«
»Es ist nur ein Wort, Mama.« Sie hatte es lauter gesagt als beabsichtigt und hob den Kopf in die Stille hinein, die eingesetzt hatte. »Entschuldigung«, sagte sie automatisch, und dann, zu ihrer Mutter gewandt, zischte sie: »Siehst du? Nur ein Wort.«
Rebekka stippte einen Krümel vom Tischtuch und ließ ihn auf den dunkelgrünen Platzteller fallen, in Gedanken versunken, als ränge sie mit sich, als fände sie einfach den Schlüssel nicht, um den Motor zu betätigen, der ihrem Mund den Antrieb gab, zuzugeben, dass sie falsch gehandelt hatte. Dann nahm sie ihre Serviette vom Schoß, faltete sie zusammen und stand resolut auf.
»Wir sollten nach oben aufs Zimmer gehen und endlich reden. Jetzt.«
Wieder unterbrachen die anderen ihre Gespräche. Nur das Feuer im Kamin knisterte, ein Scheit zerbarst und sprühte Funken, Martha lachte erschrocken und hielt sich sofort die Hand vor den Mund, als hätte sie einen heiligen Moment entweiht. Aber hieran war gar nichts heilig, verdammt, dachte Tania, es war Erpressung vor der versammelten Mannschaft. Sie sah ein großes Fragezeichen in Florians Gesicht, unverhohlene Neugier in Emmas und vorwurfsvolles Unverständnis in Chaspers, und sie fühlte sich bockig wie eine Vierzehnjährige, der man befohlen hatte, die verhassten Hausaufgaben zu erledigen, bevor sie ihre Freundinnen sehen durfte, wusste, dass es falsch war, und kam dennoch nicht dagegen an. Ihr Atem zitterte beim Ausatmen, während sie versuchte, äußerlich so gelassen wie möglich zu wirken, und gleichzeitig fragte sie sich, wovor um Himmels willen sie solche Angst hatte. Denn eigentlich wollte sie am liebsten zur Tür hinausmarschieren, raus aus diesem seltsamen Chalet voller Menschen, die alle irgendwas miteinander zu verbinden schien, obwohl sie einander gar nicht kannten, Blicke, die sich wie Spinnenfäden zu einem Netz webten, Zuneigungen, Abneigungen, offener Streit oder versteckte Andeutungen lebensverändernder Tatsachen. Ja, vor allem Letzteres war es, was Tania vorhin schon wahrgenommen hatte. Es lag etwas in der Luft, ein Flimmern, ein Kribbeln, unheilvoll trotz der im Licht der Kerzen schimmernden Weihnachtskugeln, dem Duft nach Tannen und Zimt, und den dicken weißen Flocken, die vom Himmel schwebten. Sie wollte einfach weg hier. Morgen. Morgen früh. Und wenn sie zu Fuß durch den Neuschnee bis zum Bahnhof stapfen musste.
Die Tür zum Zimmer ihrer Mutter stand offen und sie selbst am Fenster und blickte hinaus. Mit der Hand krallte sie sich am Vorhang fest, als hätte sie Angst, dass ihr die Knie nachgeben würden, wie Tania erstaunt feststellte. Sie musste ebenso nervös sein wie sie.
»Also, Mama«, gab sie den Startschuss.
Ihre Mutter drehte sich um, lächelte, als ob das was helfen würde, und deutete auf das Bett, während sie sich auf den einzigen Stuhl setzte. Tania blieb stehen.
»Ja«, sagte Rebekka und zeichnete mit dem Fuß einen Kreis auf den Dielenboden. »Wo soll ich anfangen.«
Tania schnaubte leise. »Soll ich dir eine Zusammenfassung der Ereignisse geben? Ich habe die Liebe meines Lebens gefunden, du hast mir das nicht gegönnt und meine Beziehung zerstört.«
»Ich habe dir das nicht gegönnt?« Ihre Mutter sah verwirrt aus. Gute Taktik, Mama.
»Ich war glücklich mit Simon und du bist seit der Scheidung allein, desillusioniert und einsam.«
Rebekka wischte den zweiten Teil ihres Satzes unwirsch zur Seite. »Dieser Mann ist fast zwanzig Jahre älter als du, verheiratet und Vater. Wie hast du dir das vorgestellt? Wie sollte das funktionieren?«
»Wunderbar hätte das funktioniert, wärst du nicht dazwischengegangen. Seine Ehe war schon lange vorbei, das hat er mir immer wieder gesagt. Er wollte seine Frau sowieso verlassen.«
»Und du wärst mit zweiundzwanzig Stiefmutter eines neunjährigen Jungen geworden?«
Tania verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. »Das Kind wäre bei seiner Mutter geblieben. So hast du es damals mit Papa schließlich auch arrangiert, als ihr euch getrennt habt.«
»Oh, und weil du ohne Vater aufwachsen musstest, dachtest du, hat es ein anderes Kind auch verdient?«
»Das Leben ist nicht fair.«
»Nein, das Leben ist nicht fair«, sagte Rebekka langsam und nickte dabei bedächtig, als hätte sie soeben einen Entschluss gefasst. Den Entschluss, endlich eine Wahrheit zu offenbaren. Tania fröstelte. War es das, was in der Luft lag? Da fuhr ihre Mutter auch schon fort. »Aber lass mich dir eins sagen, wenn wir schon darüber reden: Wir haben gar nichts arrangiert, damals. Dein Vater lernte eine andere Frau kennen und ging. Sie wollte keine Kinder, weder eigene noch fremde, wollte frei sein, reisen können, kein Geld für Ausbildung beiseitelegen müssen. Und er hat eingewilligt. Er hat dich zurückgelassen, im Tausch gegen ein unabhängiges Leben.«
Fast ein wenig erleichtert lachte Tania auf. »Das denkst du dir doch jetzt bloß aus. Wieso hättest du mir das so lange verschwiegen?«
»Weil ich nicht wollte, dass du dachtest, dein Vater sei ein Arschloch, das dich einfach aus seinem Leben gestrichen hat.«
»Er gratuliert mir jedes Jahr zum Geburtstag.«
»Weil ich ihn daran erinnere.«
»Und wieso sagst du mir das jetzt?«
»Weil es an der Zeit ist, alte Gewichte loszulassen.«
»O nein, Mama«, sagte Tania, mühsam beherrscht, stieß sich von der Wand ab, weil sie einfach nicht mehr stillstehen konnte, aber in dem kleinen Zimmer war kein Platz, um auf und ab zu tigern, und so war es nur ihr Herz, das raste. »Was du tust, ist, die Gewichte aus deinem Rucksack einfach in meinen zu häufen. Und ich dachte, wir wären hier, weil du dich entschuldigen wolltest.«
»Nun, ich entschuldige mich für den Schmerz, den du durch die Trennung erlitten hast. Ich entschuldige mich nicht dafür, sie initiiert zu haben, indem ich ihm drohte, die Affäre auffliegen zu lassen. Dieser Mann hätte seine Frau nicht verlassen. Er ist übrigens immer noch mit ihr zusammen. Du warst nichts als eine kleine Ablenkung für ihn, Tania. Er hätte dir früher oder später das Herz gebrochen, so wie es dein Vater bei mir getan hat.«
Tania merkte richtiggehend, wie diese Steine, die ihre Mutter ihr zuschob, sie nach unten zogen, durch eisiges, dunkles Wasser. »Das ist nicht wahr! Er hat mich geliebt! Er hat nur Zeit gebraucht, und du … und du …« Sie spürte Tränen hinter ihren Lidern prickeln und biss sich auf die Zähne, um sie zurückzudrängen.
»Und ich muss dir noch etwas sagen, mein Kind.«
Wie war sie so schnell aufgestanden und an sie herangetreten? Warum lag da so viel Schmerz in ihrem Ausdruck? Aber als ihre Mutter die Hand ausstreckte, mit der stummen Bitte, diese halbgare Entschuldigung anzunehmen, schüttelte Tania den Kopf, drehte sich um und floh aus dem Zimmer. Auf dem Gang hörte sie die anderen unten im gemütlichen Kaminzimmer lachen, Weihnachtsmusik lief, Baby, it’s cold outside, und sie wünschte sich dorthin. Stattdessen ging sie in ihr eigenes Zimmer, nahm ihr Telefon und schrieb eine Nachricht an Simon. Eine Nachricht, die er nie lesen würde, weil er sie schon lange blockiert hatte.
Irgendwann klopfte es zaghaft an ihrer Tür; es musste ihre Mutter sein, sie blieb stumm. Irgendwann später klopfte es erneut, dieses Mal kräftiger, und sie hörte Florian, wie er fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Kopfschmerzen«, log sie, und er polterte wieder die Treppe runter. Sie duschte lang, erst heiß, dann eiskalt, dann wieder heiß, kuschelte sich unter die Decke, vermisste das Gewicht ihrer Katzen, die so gern auf ihren Beinen schliefen, vermisste das Geräusch der Nachbarskinder, die oft spätabends noch über ihrem Kopf Radau machten, vermisste Clémis spöttische Kommentare und fühlte sich furchtbar allein. Erst nach einiger Zeit merkte sie, dass Simon in ihrer Vermissten-Liste nicht vorkam; sie fügte ihn rasch hinzu, entschuldigte sich im Stillen bei ihm und weinte sich in den Halbschlaf, in dem sie irgendwann hörte, wie ein Gast nach dem anderen die Treppe hochkam und sie alle in ihren Zimmern verschwanden. Noch kurz quietschten die Dielen, rauschte Wasser; die Zimmer waren gut isoliert und doch glaubte Tania, leise das rhythmische Geräusch von Bett gegen Wand zu vernehmen. Florian und Emma im Nebenzimmer. Sie verspürte einen winzigen Stich der Eifersucht. Wie dumm von ihr, Florian war tabu für sie. Aber war Simon nicht auch in einer Beziehung gewesen, ja sogar verheiratet? Mit Kind? Warum hatte sie es dort nicht gestört?
Als es längere Zeit wirklich still war, setzte sich Tania im Bett auf und griff nach dem Telefon. Kurz vor eins. Sie konnte nicht schlafen. Durch den Spalt im Vorhang fiel Licht, dann wurde es wieder dunkel. Sie krabbelte aus dem Bett und spähte hinaus. Schräg unter ihrem Fenster stand Chasper an der Hauswand, die Hände in den Hosentaschen vergraben, stocksteif, als wäre er bereits nach wenigen Sekunden zu einer Statue erfroren. Nur die weißen Atemwölkchen zeugten davon, dass er sehr wohl lebte. Spinner. Gerade wollte sie den Vorhang loslassen, als sie eine Bewegung wahrnahm. Und dort, kaum ausmachbar zwischen Dunkelheit und Schneetreiben, stand ein Reh. Genauso still wie Chasper. Furchtlos oder vor Furcht gelähmt? Dann hob Chasper langsam die Hand, als wollte er das Tier grüßen, und nach zwei, drei weiteren Sekunden trabte das Reh ohne Eile von dannen, verschmolz mit dem Wald. Gänsehaut wallte über Tanias Arme, und ohne nachzudenken, zog sie ihren Pulli über den Pyjama, schlüpfte in die Filzpantoffeln, nahm ihren Schlüssel und verließ das Zimmer.
Das Feuer im Kamin glomm immer noch und war die einzige Lichtquelle im Raum. Der Weihnachtsbaum stand dunkel in seiner Ecke; sie wollte, sie könnte ihn fragen, was nach ihrem Abgang noch alles geredet wurde, wer wem welche Blicke zugeworfen hatte und warum, aber er war ein stummer Zeuge.
»Brauchst du etwas?«, hörte sie Chasper fragen, bevor sie ihn sah. »Entschuldigung, wir haben vorhin alle aufs Du angestoßen, aber wenn Sie wollen …«
»Nein, nein«, wehrte Tania ab. Es fühlte sich seltsam intim an, hier im fast Dunkeln, warm, weich, wohlig, und sie merkte, wie sie sich endlich entspannte. »Ich wollte nicht stören, ich wusste nicht, dass du noch wach bist«, log sie. »Ist schon spät.«
Chasper schwieg und Tania wagte nicht, sich zu bewegen. Vor dem Fenster fiel der Schnee noch dichter. Hypnotisierend. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind den Kopf in den Nacken gelegt und nach oben gestarrt hatte, den Schneeflocken entgegen, und sich unendlich gefühlt hatte bei dem Anblick.
»Das Hotel allein zu betreiben, ist viel Arbeit. Auch wenn es klein ist«, sagte Chasper schließlich.
Nur mühsam konnte Tania ihren Blick von dem weißen Treiben lösen. »Hast du keine Hilfe? Deine Frau oder so?«
»Nein«, antwortete er ruppig. Und noch einmal: »Brauchst du etwas?«
Diese Kati würde sich freuen, dass er Single war, so wie sie ihn angehimmelt hatte. Aber vielleicht wusste sie es mittlerweile ja auch.
»Einen Schnaps hätte ich gern«, sagte sie. »Etwas, das müde macht.« Sie setzte sich an den Esstisch, auch wenn der Sessel beim Kamin einladender aussah. Von hier aus konnte sie aus dem Fenster sehen, zusehen, wie die Welt unter dieser dicken weißen Decke verschwand so wie die Tische auf der Terrasse, Ecken und Kanten abgerundet wurden, bis keine Konturen mehr erkennbar waren. Traumartig. Hatte sie sich das Reh vorhin nur eingebildet?
Was Chasper ihr ein paar Minuten später brachte, war eine Tasse warme Milch. »Mit Honig«, sagte er lapidar und stellte einen Teller mit Guetzli auf den Tisch. Zimtsterne, Spitzbuben, erkannte sie, irgendetwas Schokoladiges und Haselnussmakronen.
»Ich … ich wollte einen Schnaps«, sagte sie. »Ich bin doch kein kleines Kind.«
Chasper hieb mit dem Feuerhaken sanft auf das letzte Holzscheit, bis es zerfiel, und verteilte die Glut, bevor er die Glastür wieder schloss. »Du benimmst dich aber sehr wie jemand, der ganz dringend eine Mutter bräuchte.«
Sie schnaubte empört. »Entschuldige?« Er setzte sich zu ihr an den Tisch, und sie wusste nicht, ob sie das wollte oder nicht. »Was weißt du schon von mir?«
Er nahm sich ein Plätzchen, roch kurz genießerisch daran, biss aber nicht ab. »Bisschen was. Deine Mutter war lang genug allein heute, sodass wir uns ab und zu unterhalten haben.«
»Dann bist du aber einseitig informiert. Sie hat mich sehr verletzt; sie hat mir das genommen, was mir nach ihr am wichtigsten war. Wie könnte ich ihr das einfach so verzeihen?«
»Indem du ihr einfach so verzeihst.«
Tania lachte unsicher und rührte in ihrer Tasse. »Sehr witzig.«
»Das Leben ist zu kurz, um zerstritten zu sein«, sagte Chasper und zerbröselte die Makrone zwischen seinen Fingern.
»Wie poetisch.« Pathetisch, hatte sie sagen wollen und sich im letzten Moment auf die Zunge gebissen. Sie nahm einen Schluck von der Milch; sie war süß und alpsahnig und voller Erinnerungen an unzählige Momente des Zubettgehens, daran, wie sie ihre Nase in die weiche Wange ihrer Mutter drückte, wie diese ihr mit sanftem Zug die langen Haare zu einem Zopf flocht und ihr dabei Gutenachtlieder ins Ohr summte, an gemeinsames Zählen der Leuchtsterne an ihrer Zimmerdecke, komm, ein letztes Mal den Löffel mit dem Honig abschlecken und dann schlafen, meine Nudel. Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie konnte sie nicht zurückhalten. Wie hatte sie sich so in diese Wut verrennen können? Und doch war es nicht richtig von ihrer Mutter gewesen, sich wie eine Axt in ihr Privatleben zu treiben. Damit hatte sie auch ihr Vertrauen gespalten. Erinnerungen allein reichten nicht aus, um das wieder zu kitten.
Chasper reichte ihr eine Serviette. Sie presste sie gegen die Augen, bis es schmerzte und sie sich wieder unter Kontrolle hatte.
»Hast du vorhin wirklich ein Reh begrüßt?«, fragte sie, schniefte noch einmal und knabberte einen Zimtstern an.
Er sah ertappt aus; der Ausdruck von Mitgefühl, der eben noch auf seinem Gesicht gelegen hatte, verschwand unter einer neutralen Maske.
»Ja.«
Tania wartete, dass er mehr erzählte, von den Rehen, von diesem Reh im Speziellen, aber Chasper stand auf.
»Du solltest dich mit deiner Mutter versöhnen.«
»Ich wollte … morgen früh … abreisen«, stammelte Tania, von dem abrupten Ende ihres Gesprächs verwirrt, wie aufgewacht aus diesem seltsamen Traum.
Chasper schüttelte den Kopf und wies mit dem Kinn zum Fenster. »Das kannst du vergessen.«