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09.12.2024

Wenn aus Winter Wärme wird - Teil 9

Wenn aus Winter Wärme wird – ein Winterroman mit viel Liebe, Spannung und Drama.
Mit ihrem Winterroman ,,Wenn aus Winter Wärme wird " nimmt die Autorin Astrid Töpfner die Leser mit auf eine spannende Reise in die schneebedeckten Schweizer Berge. Tauchen Sie ein in die Winterstimmung mit viel Gefühl und Drama – mit dem Kreuzlingen24-Adventskalender.

15. Dezember

Tania

Sie wusste, sie tat ihrer Mutter Unrecht, denn Geld war nie reichlich vorhanden gewesen. Aber da wollte sie sich entschuldigen, Frieden schließen, sich einschleimen, was auch immer, hätte da nicht St. Moritz rausspringen können? Selbst dort gab es bestimmt günstige Hotels. Oder Davos, Klosters, Brigels, Laax, irgendwas Bekanntes. Nein, ihre Mutter lud sie in irgend so ein Kaff ein. Noch nie gehört. Sie hatte versucht, sich anhand der Adresse ein Bild von dem Hotel zu machen, aber entweder war es noch zu neu oder die Straße zu unbedeutend, es tauchte auf jeden Fall in Google Maps nicht auf.

Zumindest gab es hier oben Schnee. Der Bilderbuchtag versöhnte Tania damit, sich seit zweieinhalb Stunden den Hintern in diversen Zügen plattgesessen zu haben, und wenn sie ehrlich war, freute sie sich jetzt auch ein bisschen, der Einladung gefolgt zu sein. Sie träumte bereits davon, im Jacuzzi zu liegen mit Aussicht auf die weiße, glitzernde Landschaft, beim Après-Ski Glühwein zu schlürfen und bis in die Nacht hinein zu coolen Beats zu tanzen. Hashtag Hüttengaudi eben. Vielleicht würde sie sich sogar Skier mieten morgen, auch wenn sie zuletzt vor acht Jahren im Skilager Bretter unter den Füßen gehabt hatte. War doch wie Fahrrad fahren, verlernte man nie, oder?

»Ah, Chaspers Hotel«, murmelte die ältere Frau, die sie vor dem Bahnhof nach dem Weg gefragt hatte. »Kommt er Sie nicht abholen?« Sie sah sich suchend um und Tania tat es ihr gleich. Zwei Jugendliche gammelten auf der anderen Straßenseite neben einem Kiosk rum. Als der eine seinen Zigarettenstummel in den Schneehaufen an der Hauswand steckte, schnalzte die Frau missbilligend.

»Ich … Keine Ahnung. Meine Mutter hat reserviert, sie hat mir nichts dergleichen gesagt. Kann doch nicht so weit sein?« Himmel, das Dorf war überschaubar.

Die Frau musterte sie, als überlegte sie, ob sie zur selben Diese-Jugend-von-heute-Fraktion gehörte wie die zwei Lümmel gegenüber oder ob sie eine einfältige, aber harmlose Städterin war.

»Los, steig ein, ich fahr dich halt schnell.« Sie überquerte bereits die Straße, bevor Tania ablehnen konnte, rief den beiden Jungs etwas auf Rätoromanisch zu, das nicht sehr freundlich klang, und schloss den Kofferraum auf. Na gut, besser als den Koffer über die mit festem Schnee bedeckte Straße zu zerren war es allemal, und erst jetzt realisierte sie, dass die gute Frau sie innerhalb weniger Sekunden vom Siezen zum Duzen degradiert hatte.

Die Fahrt führte sie die Hauptstraße entlang, und bei jeder Abzweigung linste Tania erwartungsvoll ums Eck, aber ihre einsilbige Chauffeurin fuhr immer weiter geradeaus. Tania verfluchte sich dafür, die Sonnenbrille vergessen zu haben; das gleißende Weiß der Schneelandschaft blendete schmerzhaft. Sie presste die Augen zusammen, ganz kurz nur, und als sie sie wieder öffnete, hatten sie das letzte Haus des Ortes hinter sich gelassen und fuhren durch das weiße Nichts, links ein Hang, rechts ganz weit unten und ganz klein ein Fluss. Nach vielleicht einer Minute bogen sie auf eine Straße ab, die diesen Namen nicht verdiente und die sich über Haarnadelkurven den Berg hochschraubte.

»Wo fahren wir hin?«, fragte Tania nach der vierten Kurve und wusste nicht mit Bestimmtheit, ob der steile Abhang das mulmige Gefühl in ihrem Bauch auslöste oder die schweigsame Frau, die sie wahrscheinlich gerade entführte.

»Na, zu Chasper«, antwortete die. »Gleich da, schau.«

Und tatsächlich, noch eine kleine Kurve und die Straße verlief wieder gerade, weit unten das Dörfchen, weit unten Tanias Magen, aber vor ihnen, auf einem kleinen Plateau, stand vor einem Tannenwald ein prächtiges, zweistöckiges Chalet, komplett aus Holz, das Dach dick mit Schnee bedeckt. Ein paar Eiszapfen hingen an der Kante und tropften, Rauch schwebte aus dem Schornstein. »Ruhehotel Onna« stand auf dem Schild unter dem breiten Balkon, wobei das »Ruhe« aussah, als wäre es erst kürzlich hinzugefügt worden. Onna, was war das denn für ein dämlicher Name, was sollte das sein? Hießen solche Hotels nicht »Alpenblick« oder »Sonnenschein«?

Die Frau parkte direkt neben dem Auto, das Tania als das ihrer Mutter erkannte. »Muss dann auch wieder los«, meinte sie und machte eine ruppige Kopfbewegung, die Tania aus dem Wagen scheuchte. Zwanzig Sekunden später stand sie auch schon allein vor dem Hotel, nichts als die auf dem Schild beworbene Ruhe in den Ohren, und das Gefühl beschlich sie, dass die Hüttengaudi wahrscheinlich überall stattfand außer hier.

»Tania, da bist du ja!«, hörte sie ihre Mutter rufen und sah sie oben auf dem Balkon stehen. Sie hob die Hand zum Gruß und ließ sie auf halbem Weg wieder sinken. Hatte sie sie mit Absicht ans Ende der Welt gelockt, damit sie ihr nicht entwischen konnte? Nach der Nummer mit dem Brief traute Tania ihr alles zu, aber da hatte sie sich geschnitten. Sie würde schon selbst entscheiden, wann sie sich die Entschuldigungsnummer anhören wollte! Langsam kroch ihr jedoch die Kälte in den Körper und so zerrte sie widerwillig den Koffer in den Eingangsbereich des Hotels. Kaum trat sie ein, umhüllte sie der warme Geruch von Holz und Holz und noch mehr Holz, sowie eine feine Note Kaminfeuerrauch.

»Tania!« Ihre Mutter musste wie der Blitz aus ihrem Zimmer und die Treppe herabgeeilt sein. Jetzt stand sie eine Armlänge von ihr entfernt, sichtbar unsicher, als wüsste sie nicht, ob sie in Tanias Distanzzone eindringen durfte, aber dann siegte wahrscheinlich das Mutterherz und sie zog Tania in eine Umarmung. »Es tut so gut, dich zu sehen«, murmelte sie ihr ins Ohr, dann trat sie wieder einen Schritt zurück, ließ ihre Hand aber auf Tanias Wange liegen. Sie sah sie an, als wollte sie gleich sagen, wie groß sie doch geworden sei, dachte Tania und verschob ihr Gewicht von einem Bein auf das andere, um der Berührung zu entkommen. Die Stelle in ihrem Gesicht fühlte sich plötzlich kalt und verloren an.

»Dünn bist du geworden«, stellte sie fest und betrachtete ihre Mutter genauer. Gut ein Jahr hatten sie sich nicht gesehen. Abgesehen vom Gewicht waren da auch viel mehr silberne Fäden im brünetten Haar; ihre Mutter war doch noch keine sechzig? »Es steht dir nicht, dieses Magersein. Und du solltest dir die Haare färben«, sagte sie ihr dann auch direkt ins Gesicht und sah mit einer gewissen Genugtuung und einem Hauch schlechtem Gewissen, dass ihre Mutter unter der verbalen Ohrfeige zusammenzuckte.

Sie hörte ein Räuspern hinter sich und drehte sich um. Neben der kleinen Rezeption stand ein Mann – wie lange schon? Aber er lächelte sie freundlich an, professionell freundlich, zumindest.

»Sie müssen Tania Weber sein? Willkommen in meinem Hotel.«

Das war dann wohl dieser Chasper. Ob der auch einen Nachnamen hatte? Egal, sie würde ihn kaum zu Gesicht bekommen. Was schade war, eigentlich, denn er sah nett aus. Vielleicht Mitte dreißig, groß und breit, ein Bär von einem Mann, würde Clémi sagen. Simon war auch so ein Typ gewesen, beschützend und vertrauenserweckend. Liebenswert. Kuschelig. Ach, Simon.

»Wenn Sie mir hier das Formular ausfüllen könnten«, holte Chasper sie zurück und tippte mit dem Kugelschreiber auf das Blatt Papier. Daneben lag ein klobiger Zimmerschlüssel.

»Sagen Sie, Chasper …« Tania unterschrieb schwungvoll. »Gibt es hier, hm, eine Bar? Après-Ski? Wellness, Massagen, haben Sie eine Liste der Behandlungen?«

Der Hotelbesitzer lächelte ein schiefes Lächeln, es sah beinahe ein wenig trotzig aus. »Das Kaminzimmer ist sehr gemütlich, und dort kann ich Ihnen auch etwas zu trinken servieren. Hinter dem Haus gibt es eine Sauna. Ansonsten ist dies, wie Sie in der Beschreibung bestimmt gelesen haben, ein Ruhehotel. Die Gäste kommen üblicherweise hierher, weil sie die Stille genießen wollen, vom Alltag runterkommen. Weil sie sich selbst wiederfinden wollen.«

Tania schoss ihrer Mutter einen giftigen Blick zu. Was zur Hölle war das für ein Esoterikscheiß?

Ihre Mutter räusperte sich und hob entschuldigend die Schultern. »Wir können doch gleich eine heiße Schokolade zusammen trinken, draußen auf der Terrasse, und dieser Stille lauschen?« Sie schien nervös. Sollte sie besser auch sein. »Bring doch kurz deinen Koffer in dein Zimmer, mach dich frisch, ich warte auf dich, in Ordnung?«

Ein Bild tauchte vor Tanias innerem Auge auf, das weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer, die Tannenzweige des Adventskranzes verströmten ihren würzigen Duft, im Hintergrund rieselte leise der Schnee durch die Lautsprecher und sie beide saßen auf dem Sofa, jede ihre Weihnachtstasse in der Hand mit heißem Kakao und einer dicken Wolke geschlagener Sahne. Wollte sie jetzt einfach so tun, als wäre alles wie früher? Tania erwischte sich dabei, wie sie sich für genau zwei Sekunden wünschte, es wäre so, alles wie früher, ihre Mutter und sie beste Freundinnen, aber dann packte sie ihren Koffer, schob sich an ihr vorbei und stieg die Treppe hoch.

Sie ließ sich Zeit mit dem Frischmachen, packte ihren Koffer aus, legte sich auf das Bett – bequem, immerhin – und spürte, wie sich eine satte Müdigkeit über sie legte. Musste die Bergluft sein. Oder die Stille. Vor dem Fenster näherte sich die Sonne auf ihrem nachmittäglichen Abwärtsweg den Bergspitzen auf der anderen Seite des Tals. Tief atmete sie ein, Holzduft überall, angenehm, beruhigend, und sie musste lachen. Sich selbst finden, Hilfe. Nein, nicht finden, wiederfinden! Als ob sie sich irgendwo verloren hätte. Heilige Scheiße. Das musste sie sofort Clémentine schreiben. Aber als sie ihr Handy in die Hand nahm, merkte sie, dass sie kaum Netz hatte; beim Abschicken der Nachricht verabschiedete sich auch der letzte Balken. Oh, fantastisch. Wo war überhaupt der Fernseher? Sie stand auf, öffnete noch einmal die Schranktüren, suchte den Schreibtisch nach einem verborgenen Mechanismus ab, durch den der Bildschirm nach oben fahren würde, ganz modern und dadurch sehr unwahrscheinlich, hier zu finden, aber konnte es wirklich sein, dass ein Hotelzimmer über keinen Fernseher verfügte? Was sollte sie denn am Abend machen ohne Netz und Netflix, etwa mit den Esoterikern zusammen Karten legen, schweigend und der Stille huldigend? Ein Buch lesen, würde ihre Mutter jetzt natürlich sagen, was Tania daran erinnerte, dass die ja unten auf sie wartete. Außer, sie spränge vom Balkon, führte kein Weg an ihr vorbei.

Sie atmete tief ein und ganz langsam wieder aus. Dann straffte sie die Schultern und trat auf den Gang. Schließlich war sie überhaupt nur gekommen, um diese Entschuldigung zu hören, da konnte sie es auch gleich hinter sich bringen.

»He, aufpassen!«, hörte sie und konnte dem Paar gerade noch ausweichen, bevor sie, in Gedanken versunken, in die beiden hineinlief.

»Entschuldigung«, sagte sie ganz automatisch, dann stellte ihr Blick scharf und sie merkte, dass die zwei in ihrem Alter sein mussten, Mitte zwanzig maximal. Erleichterung durchflutete sie wie warmes Wasser; sie war nicht allein!

»Entschuldigung?«, wiederholte sie, und das Paar, das schon fast bei der Treppe war, blieb stehen. Der Mann drehte sich zu ihr um, hu, war der groß, groß und schlaksig.

»Hm?«

Sie räusperte sich. »Seid ihr schon länger hier? Gibt’s hier irgendwas? Abgesehen von Ruhe?«

Die junge Frau lachte leise. »Vergiss es. Tote Hose total. Ist ja niedlich und so, aber der Spaß findet woanders statt.«

»Mieser Handyempfang, ihr auch?«

»Definitiv mieser Handyempfang«, bestätigte der junge Mann. »Der Chef unten hat was von Wartungsarbeiten geredet, ab Montag soll’s wieder besser laufen. Aber das Essen ist gut. Und es gibt Rehe.«

»Zum Essen?«

»Nein!«, rief die Frau. »Draußen. Hinterm Haus ist eine Futterstation.«

»Huh, Glück gehabt«, sagte Tania, und der junge Mann antwortete: »Wer, du oder die Rehe?« Seine Freundin schnaubte pikiert, aber er lächelte verschmitzt und Tania konnte nicht anders, als zurückzulächeln. Sie fühlte sich sofort wohl in seiner Gegenwart, und es gab wenige, die ihren trockenen Humor sofort verstanden und darauf eingingen.

»Ich bin übrigens Florian«, sagte er und hob grüßend die Hand. »Und das ist Emma.«

»Tania, freut mich sehr. Und was macht man denn hier so, wenn’s noch zu früh ist zum Rehe gucken? Oder essen?«

Emma nickte in Richtung Treppe. »Wir wollten ins Dorf runter, in die Beiz, dort waren wir gestern schon. Was trinken, Runde Dart spielen. Komm doch mit?«

Das ließ sich Tania nicht zweimal sagen. Sie war sonst nicht der allzu gesellige Typ, langweilig wie altes Brot nannte Clémi sie, aber verglichen mit ihrer WG-Genossin war jeder altes Brot, während sie ein knuspriges französisches Croissant war. Clémi ließ keinen Spaß aus und Tania war halt … aus der Übung. Simon war abends nie ausgegangen, und seit Simon nicht mehr Teil ihres Lebens war, hatte sie kein Bedürfnis verspürt, sich unter Leute zu mischen. Aber hier und jetzt war ihr alles lieber, als mit ihrer Mutter heiße Schokolade zu trinken.

»Mama«, sagte sie, als sie in der kleinen Eingangshalle mit der Rezeption ankamen, wo sie tatsächlich immer noch stand, natürlich mit einem Buch in der Hand und jetzt mit einem erwartungsvollen Lächeln im Gesicht. Tania war vorher nicht aufgefallen, wie müde sie darunter aussah. Oder war es das Licht? Einen Moment lang zögerte sie, und es kostete sie mehr Überwindung, als sie verstehen konnte, zu sagen: »Wir sehen uns zum Abendessen, ja? Ich geh noch kurz mit den beiden ins Dorf runter.« Sie konnte sie nicht anschauen dabei und verschwand durch die Tür, bevor sie die Antwort hören oder sehen konnte.

Wenn aus Winter Wärme wird

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Astrid Töpfner

Astrid Töpfner wurde 1978 in der Schweiz geboren und wohnt sie seit 2005 mit ihrem Mann und den zwei Söhnen in Spanien. In ihren Geschichten spielen oft Familien und deren tief verwurzelte Konflikte eine grosse Rolle; wie unterschiedlich Personen mit Themen wie Liebe, Verlust, Eifersucht oder Schuldgefühlen umgehen. Es sind keine klassischen Liebesromane, aber dennoch spielt die Liebe immer mit - denn ganz ehrlich: Was wären wir schon ohne?

www.astrid-topfner.com / www.instagram.com/astrid_topfner

Astrid Töpfner