16. Dezember
Kati
Marthas Schnarchen riss Kati aus dem Schlaf, eine undefinierbare Reihenfolge an Grunzlauten. Sie stupste sie an, und dann, als sie nicht reagierte, rüttelte sie an ihrem Arm.
»Dreh dich auf die Seite, verdammt«, murmelte sie, und wieder äußerte Martha seltsame Töne, zog die Decke enger um sich und drehte sich tatsächlich um. Fast augenblicklich herrschte Ruhe, und diese Ruhe zog Kati wieder in den Schlaf, als würde sie durch dickes Wasser sinken, langsam, stetig, aber dann realisierte ihr Gehirn etwas, etwas war anders, und sie blieb auf halbem Weg ins Traumland stehen. Lächelte verschlafen. Da war sie, die Stille des verschneiten Morgens. Langsam öffnete sie die Augen; durch den Spalt des Vorhangs drang bereits trübes Tageslicht. Sie sah auf ihr Telefon und erschrak. Fast neun Uhr! War auch sonst noch niemand wach oder schluckte der Schnee auch die Geräusche im Haus? Vorsichtig, um Martha nicht zu wecken, schälte sie sich aus der Daunendecke, stieg aus dem holzduftigen, äußerst bequemen Bett und tapste zum Fenster. Ihr Herz klopfte laut vor Vorfreude, ach, diese Momente in ihrer Kindheit, wenn sie an solchen Tagen aufgewacht war, die Gewissheit in der Luft, dass sich die Welt verkleidet hatte. Und ja, als sie den Vorhang zur Seite schob, war es weiß. Es war so weiß, dass sie erst gar nichts erkannte. Blinzelnd versuchte sie, auszumachen, was sie gestern noch gesehen hatte, die Tische auf der Terrasse, links hinten die Saunahütte, die hohen Tannen. Aber das Flockengestöber war so dicht, dass sie nur die Konturen erahnen konnte. Wie viel Schnee war gefallen? Dreißig Zentimeter? Mehr? Ungläubig öffnete sie das Fenster und schnappte nach Luft; es war noch kälter als gestern, es war schneidend kalt, es war klirrend kalt, aber sie streckte dennoch die Hand aus, wischte den Schnee vom Sims, schloss die Augen. Atmete Eis in ihre Lunge. Lauschte.
Stille.
Fast.
Fast unhörbar war es, und doch: Es lag ein Knistern in der Luft, das Geräusch Tausender federleichter Schneeflocken, die sich sanft aufeinanderlegten. Es war das friedlichste Geräusch, das Kati jemals vernommen hatte.
»Kalt«, murmelte Martha empört. »Mach zu.«
»Schau nur, Martha!«, sagte Kati aufgeregt. »Schau nur diese Pracht!«
»Will schlafen.«
»Es ist schon neun, Trantüte.«
»Nix los hier. Kopfweh. Lass mich schlafen.« Und damit zog sie sich die Decke über den Kopf und rollte sich darunter zu einer Kugel.
Nix los hier. Das war doch das Schöne. Aber Martha saß der Kater in den Knochen, denn natürlich hatte sie gestern mehr als drei Gläser Wein getrunken, und danach noch von dem selbst angesetzten Nussschnaps, den Chasper angeboten hatte. Allein beim Denken seines Namens prickelte Katis ganzer Körper und sie fühlte sich so leicht wie die fragilen Gebilde, die vom Himmel schwebten. Er musste bestimmt schon wach sein. So leise, wie es ihr möglich war, duschte sie, zog sich an und schlich aus dem Zimmer.
Schon auf dem Gang roch es nach Frühstück. Kaffee, frisches Brot, der fettige Duft von Speck. Ihr Magen knurrte. In der Kaminstube traf sie zu ihrer Überraschung auf Rebekka, die eine dampfende Tasse Tee zwischen ihren Händen hielt, als müsste die nicht brennend heiß sein, und sonst ziemlich unglücklich ins Leere starrte. Das Gespräch mit ihrer Tochter schien nicht gut gelaufen zu sein. Und auch Florian und Emma saßen bereits am Tisch und mampften. Auf der Anrichte standen Teller und Platten und Körbe mit Köstlichkeiten, blättrige Croissants, kerniges dunkles Brot und fluffiger Hefezopf, Wurst und Käse, Marmeladen, Joghurt und Müsli. Klein, aber verdammt fein.
»Magst du gern ein Ei?«, hörte sie Chasper und drehte sich rasch um, merkte, wie sie rot wurde, und bückte sich, um einen imaginären Fleck von ihrer Hose zu reiben. Nach dem Nussschnaps, erinnerte sie sich, als Martha schon keinen klaren Satz mehr artikulieren konnte, hatte er auf einmal neben ihr gesessen. Oder sie neben ihm? Auf jeden Fall hatten sich ihre Schultern berührt, wenn sie lachten, ihre Beine, wenn sie sich bequemer hinsetzten, zufällig und doch auch wieder nicht.
»Hm«, sagte sie und richtete sich wieder auf. »Vier Minuten?«
»Weiß ich nicht?«, fragte er zurück.
»Ja, ja, doch!« Sie kicherte. »Vier Minuten, bitte. Wahnsinn, der Schnee, oder?«
»Wahnsinn, ja.« Sein Blick lag ein paar Sekunden zu lang auf ihr, unergründlich. Sie glaubte, ein leises Lächeln zu erahnen, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. Sie glaubte, eine leise Traurigkeit zu erkennen, und hoffte, sie möge sich täuschen.
»Dann, ähm …« Ihr fehlten die Worte. Sie knautschte ihre Haartolle, die noch feucht vom Duschen war, und drehte sich von ihm weg, um ihren Teller zu nehmen und nicht noch dummer dazustehen. Wie benahm sie sich denn bitte? Schlimmer als ein verknallter Teenager. Sie war Mitte dreißig!
»Chasper, können wir nachher in die Sauna?«, fragte Florian.
Er lachte. »Natürlich, wenn ihr den Weg zur Hütte freischaufelt.«
»Wird erledigt!«, rief Florian mit der Begeisterung eines tollpatschigen Welpen, trank seinen Kaffee aus und stopfte sich bereits im Aufstehen begriffen das letzte Stück seines Brötchens in den Mund.
»Gibt ja sonst nichts zu tun«, murmelte Emma und legte ihre zerknüllte Serviette auf den Teller, etwas, das Kati gar nicht mochte. Es juckte sie in den Fingern, sie vom Teller zu nehmen, glattzustreichen und ordentlich zusammenzulegen. Aus den beiden wurde sie nicht schlau. Florian und Emma. Und dann Tania. Dieses Dreieck mit dem ungleichen Kräfteverhältnis. Sah Emma es nicht oder wollte sie es nicht sehen, dass das Gleichgewicht dabei war, zu ihren Ungunsten zu kippen? Bloß nicht einmischen, ermahnte sie sich. Sie hatte ihre eigene Baustelle.
Rebekka seufzte leise, und unauffällig schielte Kati zu ihr rüber. Sie hatte die Ellbogen auf dem Tisch abgestützt und die Tasse an ihrem Kinn; so saß sie da, als inhalierte sie den Dampf mit geschlossenen Augen, während sie mit ihren Gedanken irgendwo war, wo sie gerade lieber sein wollte als hier.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie vorsichtshalber, aber auch hier – das war nicht ihr Problem.
Rebekka öffnete die Augen und lächelte zurückhaltend. »Aber natürlich. Nur ein bisschen müde. Vielleicht lege ich mich einfach noch ein wenig hin. Ja«, fügte sie leise hinzu, wie zu sich selbst. »Ich ruhe mich etwas aus.«
»Gibt ja sonst nix zu tun«, witzelte Kati wie vorhin Emma, weil es stimmte, und auch, weil sie fand, dass die Frau aussah, als bräuchte sie eine Bestätigung.
»Ja«, wiederholte Rebekka. »Es gibt ja sonst nichts mehr zu tun.« Viel zu schwerfällig für ihre magere Statur erhob sie sich und ließ Kati mit Chasper allein, der mit ihrem Ei eintrat.
»Bitte schön«, sagte er. »Vier Minuten.« Beim Hinstellen des Eierbechers streiften seine Finger ihre Hand und ihr Herz machte einen viel zu großen Sprung.
Satt und zufrieden lehnte sich Kati an die Wand hinter ihr, faltete die Hände über dem Bauch und sah hinaus. Waren die Flocken vorhin noch friedlich vom Himmel geschwebt, war nun Wind aufgekommen, der ein fröhliches Durcheinander schuf, das ihr schwindlig wurde beim Zuschauen.
»Gefällt mir nicht«, brummte Chasper.
Sie hatte ihn nicht eintreten gehört. »Nein?«
»Nein. Zu viel aufs Mal. Die Straßen wurden gesperrt, der Zugverkehr eingestellt. Zum Glück habe ich genug Vorräte in der Küche, so wie es aussieht, kommt man nicht mal ins Dorf runter.«
Eingeschneit. Wie romantisch.
»An die Autos habe ich gar nicht gedacht«, gab sie zu. »Wenn es so weiterschneit, müssen wir die morgen ausbuddeln, um nach Hause fahren zu können.«
Chasper, der gerade die Glastür des Kamins öffnete, hielt inne und drehte sich zu ihr um. Die Distanz zwischen ihnen betrug bestimmt vier Meter, und doch spürte sie seine Präsenz, als stünde er direkt vor ihr und würde ihren Herzschlag eigenhändig hochdrehen.
»Ich bezweifle, dass ihr morgen werdet abreisen können.«
Kati ließ die Worte auf sich wirken. Fand sie nicht schlimm, merkte sie, gar nicht, und strich sanft mit dem Finger über die schöne Maserung des Holztisches, der zum Frühstück ohne weiße Tischdecke daherkam. Chasper hatte das Feuer zum Laufen gebracht und stellte nun das Radio an, aus dem sofort der ultimative Weihnachtsohrwurm dudelte, Last Christmas, und noch bevor Kati mitsummen konnte, änderte Chasper die Frequenz. Die Erinnerung an letzte Weihnachten schien ihm nicht zu gefallen. Auch das fand sie nicht schlimm, es gab schönere Lieder, und sie wollte im Hier und Jetzt sein und nicht in der Vergangenheit. Es tat ihr gut, dieses Hier und Jetzt. Genau hier zu sein.
»Morgen.« Tania tauchte auf, Blässe um die Nase und dunkle Schatten unter den Augen. »Was für ein Wetter. Habt ihr meine Mutter gesehen?« Sie sah dabei mehr zu Chasper als zu Kati, als teilten sie ein Geheimnis, und das pikste Kati ins Herz wie die Scherbe einer zerbrochenen Weihnachtskugel.
»Sie hat sich noch einmal hingelegt«, antwortete sie ihr, vielleicht ein klein wenig zu spitz. Der Wind blies die Flocken gegen die Scheibe und von der Treppe her drangen lautes Trampeln und Lachen ins Zimmer. Emma und Florian polterten herein, ausgerüstet mit dicken Jacken, Halstüchern, Mützen, sodass man gerade mal die Augen sah, und, na ja – nicht sehr dick aussehenden Handschuhen. Weniger geeignet fürs Schneeschaufeln, aber danach würden sie sich ja aufwärmen.
»Melden uns zum Dienst!«, rief Florian und salutierte. Emma kicherte in ihren Schal hinein, dann wurde sie Tania gewahr und winkte ihr fröhlich zu, während Kati ganz genau sah, wie sich Florians Haltung sofort änderte, wie er weicher wurde, wie sein Blick schnell von Emma zu Tania zu Emma zu Tania fuhr und er unter seinem Halstuch lächelte.
»Schneeschaufeln stehen im Anbau direkt neben dem Eingang hinten«, sagte Chasper belustigt. »Und was kann ich dir bringen, Tania?«
Flo und Emma machten sich davon und Kati stand auf; dieses Spektakel wollte sie sich nicht entgehen lassen. Kurz nach Chasper verließ sie das Kaminzimmer, und noch bevor der in der Küche verschwinden konnte, rief sie: »Kann ich mir kurz die Jacke hier ausleihen?«, und griff nach der roten Winterjacke, die an der Garderobe neben der Eingangstür hing.
»Nein.«
Sie drehte sich zu ihm, verwirrt über den harschen Klang seiner Stimme.
»Bitte nicht.« Jetzt klang er sanfter, entschuldigend. »Tut mir leid. Nimm meine. Die schwarze.« Er nickte bestätigend, als sie zögerlich die zweite Jacke nahm; sie war leicht feucht, er war heute also schon draußen gewesen. Natürlich versank sie darin wie in einer zu großen Umarmung.
»Passt wie angegossen«, sagte sie und grinste, bemüht, die Leichtigkeit wieder herzustellen, und er tat ihr den Gefallen und grinste zurück.
Die beiden Verrückten hatten fast vierzig Minuten gebraucht, um sich den Weg zur Saunahütte freizuschaufeln, auch wenn sie viel Zeit damit verschwendeten, sich gegenseitig in die aufgetürmten Haufen zu schubsen. Irgendwann war Tania dazugestoßen und auch Martha hatte kurz ihre verkaterte Nase in die Kälte gesteckt, aber rasch entschlossen, in der Nähe des Feuers zu bleiben. Als die Sauna dann endlich eingeheizt war, stand die nicht sichtbare Sonne bereits am Zenit, es schneite immer noch, der Wind hatte weiter zugenommen und Kati war sicher, ihre Finger nie wieder zum Leben erwecken zu können. Darauf, gemeinsam mit Florian und Emma zu schwitzen, verzichtete sie aber dennoch, und zu ihrem Erstaunen wollte sich auch Tania nicht dazugesellen.
»Zu heiß«, murmelte diese, und Kati überlegte amüsiert, worauf sie sich damit bezog; auf die Sauna, auf Florian oder die Möglichkeit, dass Emma ihren heimlichen Blicken auf die Schliche kam. Stattdessen verschwand sie in ihrem Zimmer, und das, obwohl ihre Mutter mittlerweile wieder im Kaminzimmer saß, ganz nah am Feuer, als könnte es ihr, im Gegensatz zu ihrer Tochter, nicht heiß genug sein. Ob Traurigkeit einen innerlich abkühlte? Neben ihr döste Martha in einem der Sessel, auf dem Tischchen vor ihr ein halb volles Glas Tomatensaft – ein Gesöff, das sie nur in allergrößten Notfällen trank. Kati machte sich Vorwürfe; sie hätte ein Auge auf sie haben sollen, aber stattdessen hatten ihre Blicke nur Chasper gegolten. Sie war wirklich eine schlechte Freundin. Und eigentlich sollte sie zu ihr rübergehen, sie fragen, ob es ihr gut ging, ob sie eine Aspirin brauchte, sie umarmen. Aber, ach Martha. Dreißig Jahre, Martha. So musste es sich anfühlen, seinen Lebenspartner nach so vielen Jahren anzusehen und sich eingestehen zu müssen, dass man etwas verpasst hatte. Noch während sie unentschlossen mitten im Raum stand, öffnete Martha ihre Augen und versuchte sich an einem Lächeln. Es sah traurig aus, als wüsste sie genau, was in Kati vorging. Dann pfiff ein heftiger Windstoß durch den Kamin, ein Fensterladen wurde aus der Verankerung gerissen und schleuderte hin und her, gegen die Wand, gegen den Fensterrahmen, gegen die Wand, und dann ging das Licht aus. Auf einen Schlag verstummte das Radio und das Zimmer versank im Dämmergrau des Schneesturms. Kati hörte Chasper an der Rezeption fluchen und irgendwohin stampfen, wo sich wahrscheinlich die Sicherungen befanden. Kurz darauf tauchte Tania auf, die sich beschwerte, dass in ihrem Zimmer der Strom ausgefallen sei.
»Kommt vielleicht ganz schnell wieder«, meinte Chasper und sah nicht aus, als würde er seiner Aussage selbst Glauben schenken. »Vielleicht bleiben wir am besten alle in diesem Raum, hier ist es am wärmsten.«
»Oder in der Sauna«, murmelte Tania, aber da fiel auch schon die Hintertür ins Schloss und Florian und Emma tauchten auf, in ihren weißen Bademänteln und den Filzpantöffelchen.
»Ist das kalt draußen«, rief Emma bibbernd. »Das Licht ging plötzlich aus!«
»Hier auch«, sagte Rebekka. »Ihr solltet schnell heiß duschen und euch anziehen.«
»Das wird nicht möglich sein; kein Strom, kein heißes Wasser«, sagte Chasper und klang etwas ratlos.
»Notstromgenerator?«, fragte Florian, aber wieder verneinte Chasper.
»Ist kaputt. Wollte ich schon lange reparieren, aber …« Die Situation war ihm richtig unangenehm, das sah Kati ihm an und war an seiner Stelle froh, als das Telefon am Empfang klingelte. Festnetz, nahm sie an, batteriebetrieben. Drüben am Kamin tuschelte Emma mit Rebekka, Martha nuckelte an ihrem Tomatensaft, Tania starrte mit gefurchter Stirn aus dem Fenster, dessen Laden immer noch in unregelmäßigen Abständen gegen die Wand schlug. Florian schob sie sanft zur Seite, sehr sanft, öffnete das Fenster, beugte sich hinaus und zog den Laden zu. Sofort wurde es noch düsterer in dem Raum.
»Die Verankerung an der Wand ist abgerissen«, sagte er und machte pflichtbewusst zwei Schritte von Tania weg hin zu Emma, aber sein ganzes Wesen schien dabei in Schieflage zu geraten, Kopf, Herz, beides zog in unterschiedliche Richtungen.
In dem Moment kam Chasper wieder herein und klatschte zweimal in die Hände. Alle drehten sich zu ihm um. »Der Sturm hat tatsächlich eine Stromleitung beschädigt und es kann dauern, bis das repariert ist. Das Ende des Schneefalls ist erst gegen Mitternacht vorhergesagt. Ich würde also sagen, dass sich alle kurz in ihre Zimmer begeben, sich so warm wie möglich anziehen, inklusive Schuhe und Jacken, Bettdecken holen und wir uns danach hier versammeln. Hier haben wir das Kaminfeuer, in allen anderen Räumen wird es rasch ziemlich kalt werden. Keine Handys benutzen; Internet ist eh nix, aber wir sollten alle Akkus aufsparen.«
»Warum?«, unterbrach ihn Martha.
Er zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht. Keine Ahnung, wie lange wir hier festsitzen, aber wir sind ziemlich abgeschnitten von allem …«
»Na toll«, unterbrach ihn Martha erneut. »Fantastisch. Da gibt es hier sowieso schon nichts zu tun, und jetzt können wir noch weniger machen. Ich werde mein Geld zurückverlangen.«
»Mensch, Martha«, versuchte Kati, ihre Freundin zu beruhigen. »Ist doch nicht seine Schuld, dass es so schneit.«
»Schon klar, dass du ihn verteidigst«, zischte Martha ihr zu, drängte sich an ihr vorbei und ging nach oben.
Sie hatte gewartet, bis Martha mit ihrer Bettdecke wieder herunterkam, um sich ebenfalls mit warmer Kleidung einzudecken. Keine Lust auf Streitereien. Sie war eine schlechte Freundin? Ja. Aber Martha benahm sich auch nicht vorbildlich, sondern geradezu eifersüchtig.
Mittlerweile hatte jeder einen Platz bezogen, in den Sesseln am Kamin, am Boden davor, am Esstisch, und Chasper hatte einen Topf an den Rand des Feuers gestellt, in dem er Wasser erhitzte, das er danach in den Samowar gießen wollte, und eine kalte Platte, Brot und eine große Schüssel Salat hergerichtet.
»Kennt jemand einen Staat in Zentralafrika? Hört mit N auf«, fragte Rebekka in die Runde. »Fünf Buchstaben.«
»Libyen«, sagte Florian. »Ach nein, das sind sechs.«
»Und liegt nicht in Zentralafrika«, korrigierte ihn Emma liebevoll. »Gabun.«
»Danke.«
Dann wieder Schweigen. Das Feuer prasselte, der Wind pfiff, Tania spielte ein Spiel auf dem Handy, trotz Chaspers Bitte, die Akkus zu schonen. Florian tappte mit dem Fuß zu einer Melodie, die nur er hörte, auf den Boden. Jedes Mal, wenn Chasper die Glastür des Kamins öffnete, drang ein Schwall Rauch herein, und trotz der Kälte, die draußen herrschte, verspürte Kati das Bedürfnis, das Fenster aufzureißen. Es war stickig im Raum, und nicht nur wegen des Qualms.
»Eine Zierpflanze mit …« Rebekka zählte halblaut Kästchen. »Mit neun Buchstaben, da ist ein Y in der Mitte. Ich hab doch keinen grünen Daumen.« Sie lachte, es klang gekünstelt und keiner stieg darauf ein. Martha blies laut die Luft aus.
»Forsythie«, sagte Chasper, und kaum hörbar: »Die mochte meine Frau so gern.« Er sah dabei auf den Boden. Was hatte er gesagt? Das Holz des Hauses stöhnte unter der Wucht des Windes und dem Gewicht des Schnees, und in Katis Ohr setzte ein lautes Fiepen ein. Hatte sie sein Lächeln, seine Nähe, seine Blicke falsch gedeutet? Er trug keinen Ring?
»Ich will nach Hause«, maulte Emma. »Das war eine Scheißidee von dir, Flo.«
»Ach, sei doch ruhig«, fuhr er sie an. »Ich kann mir halt kein Fünfsterne-Luxusresort leisten.«
»Können vielleicht schon, zahlst ja keine Miete. Willst du auch nicht.«
»Fängst du schon wieder damit an?«
Alle im Raum schienen peinlich darauf bedacht, so zu tun, als würden sie nicht lauschen, merkte Kati und spielte mit ihren Haaren, um sich abzulenken. Von dem Streit, von Chasper, von Martha, kehrte ihr Äußeres nach innen, um Ruhe zu suchen. Ruhe, Ruhehotel, Ruhehotel Onna. Onna, war das seine Frau? Gewesen? Er hatte von ihr in der Vergangenheit gesprochen. Geschieden? Getrennt? Ge…?
»Was ist denn EDV acht Bit, was heißt das überhaupt?«, fragte Rebekka und riss Kati aus ihren Gedanken.
»Acht Bit sind ein Byte, Mama, B-Y-T-E. Sonst noch Fragen?«, herrschte Tania ihre Mutter an.
»Lass sie doch. Oder soll sie etwa googeln? Ohne Netz?«, verteidigte Emma Rebekka schnippisch. Martha schnaubte, Florian stieß seine Freundin mahnend in die Seite, Tania entschuldigte sich tatsächlich und Kati stand auf und ging aus dem Zimmer, zum Eingang, riss die Tür auf und trat hinaus.
Die Kälte raubte ihr fast den Atem. An der Wand hing ein Außenthermometer, sie wischte den Schnee weg, den der Wind drangeblasen hatte. Minus achtzehn Grad, entzifferte sie. Es dunkelte schon langsam. Die Schneeflocken brannten auf ihrem Gesicht.
»Bist du verrückt?«
Chasper packte sie am Arm. Sie stolperte gegen seine Brust, und es war auf einmal nicht mehr die Kälte, die es Kati schier unmöglich machte, Luft zu holen, sondern ihr rasendes Herz. Reglos, sprachlos standen sie da, wahrscheinlich nur ein paar Sekunden, und dennoch nahm Kati den Geruch nach Kaminfeuerrauch wahr, der in seinem Pulli hing, und etwas anderes, das sie nicht identifizieren konnte, das sie aber dazu veranlasste, langsam ihren Kopf zu heben. Als sie Chasper ins Gesicht sah, traf sie der Blick aus seinen gletscherblauen Augen direkt in ihr Innerstes und sie öffnete leicht die Lippen. Dann räusperte er sich und trat einen Schritt zurück.
»Es ist gefährlich bei dem Wetter und den Temperaturen«, sagte er ruhig, nahm ihre Hand. Kati zitterte und glaubte, gleich zu explodieren oder ohnmächtig zu werden.
»Drinnen …« Sie räusperte sich. »Drinnen herrscht dicke Luft.«
Er nickte. »Tut mir leid.«
Sie war nicht sicher, wofür er sich entschuldigte. Aber beim Passieren der Garderobe blieb ihr Blick an der roten Jacke hängen. Gehörte sie Onna? Durfte sie ihn fragen? Sollte sie? Aber da ließ er ihre Hand wieder los und der Moment war vorbei.
Martha sprang von ihrem Sessel auf, als sie das Kaminzimmer betraten. »Geht es dir gut?«, fragte sie und klang besorgt. Kati nickte und warf ihr einen Luftkuss zu.
»Wir sind alle gereizt«, sagte Chasper. »Die Situation ist unangenehm, aber wir sollten das Beste daraus machen, statt zu streiten, was meint ihr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Adventskranz, der auf dem Tisch vor dem Kamin stand, und zündete nicht nur zwei Kerzen an, sondern gleich alle vier.
Es fehlten eh nur noch acht Tage bis Weihnachten, was spielte es für eine Rolle, dachte Kati und fragte: »Hast du noch mehr Kerzen? Machen wir es uns richtig gemütlich und vergessen das Wetter. Lagerfeuerromantik.«
Emma klatschte in die Hände. »Ja! Und wir könnten Marshmallow grillen!« Chasper machte ein betretenes Gesicht. »Dann eben nicht. Hast du Spiele? Mensch-ärgere-dich-nicht, UNO, Monopoly?«
Chasper öffnete die Tür der Anrichte. »Ich habe Romane, die Gäste zurückgelassen haben. Einen Vogel- und einen Pflanzenführer. Jasskarten. Ein elektronisches Vier-gewinnt-Spiel, das jemand vergessen hat.«
»Ich habe eine bessere Idee!«, rief Florian.