16. Dezember
Tania
Luft hatte sie gebraucht, die Kälte, die ihr wie eine eisige Ohrfeige gnadenlos ins Gesicht schlug, wieder und wieder, bis sie aufwachte und klar denken konnte. Einfach einmal um das Chalet laufen, durch den knietiefen Schnee stapfen, besser gesagt, aber als sie die Rückseite passiert hatte und vor den weißen Hügeln stand, unter denen sich die Autos versteckten, brachte sie es nicht über sich, die Eingangstür zu öffnen, als wäre damit verbunden, das, was sich dahinter befand, zu akzeptieren. Die mitleidigen Blicke der anderen, die eingefallenen Wangen ihrer Mutter, ihre magere Statur, die Traurigkeit in ihren Augen – die Wahrheit. Ihre Mutter würde sterben, und nicht irgendwann in zwanzig, dreißig Jahren, dann, wenn es zwar schmerzhaft, aber aufgrund des Alters akzeptierbar wäre, sondern bald. Und sie, sie hatte nichts davon gemerkt, war nicht für sie da gewesen, als sie die Diagnose erhielt, hatte sie wahrscheinlich weggedrückt, als sie anrief. Weil sie in ihrem Selbstmitleid versunken gewesen war wie ein trotziges Kleinkind. Die Scham brannte unter ihren Fußsohlen und trieb sie vom Hotel weg, dorthin, wo die Straße so halbwegs ausmachbar war, und auch das nur, weil sie im Licht der Handytaschenlampe die roten Stecken sah, die im Abstand von einigen Metern aus dem Schnee lugten und markierten, wo Straße aufhörte und Abhang anfing. Der Akku befand sich bereits im kritischen Bereich, warum auch hatte sie Chaspers Warnung in den Wind geschlagen und spielen müssen? Ihre Zähne klapperten aufeinander und sie spürte ihre Ohren nicht mehr, sie sollte umdrehen, aber da war ganz viel Durcheinander in ihrem Kopf, irgendwas funktionierte nicht, die Warnlampe sprang nicht an, Stromausfall innen wie außen, und so marschierte sie einfach weiter, Hügel bergab, von einem roten Stecken zum nächsten, nur sie und ihr schlechtes Gewissen, nur sie und der Schmerz, rund herum Finsternis und Schnee, soweit das Auge reichte. Einmal Kurve, noch eine Kurve, es war mühsam, durch den tiefen Schnee zu waten, sie schwitzte und fror gleichzeitig, aber sie konnte nicht stehen bleiben. Dann strauchelte sie und knickte ein, fiel auf die Knie, das Telefon rutschte ihr aus den steifen Fingern; sie fischte es sofort aus dem Pulverschnee und presste es an ihre Brust, während sie versuchte, ruhig zu atmen. Aber es drang nicht genug Luft in ihre Lunge, zu eng war ihre Kehle, zu eng ihr Brustkorb, jeder Atemzug ein Fiepsen, immer höher, höher, bis sie es nicht mehr aushielt.
»Warum?«, schrie Tania den Kloß zusammengeknüllter Gefühle aus ihrem Hals. »Warum? Warum, warum?« Heiß traten die Tränen aus ihren Augen, um sofort die Temperatur ihrer kalten Wangen anzunehmen. »Mamamamama«, wimmerte sie durch das Zähneklappern, sie konnte es nicht kontrollieren, schlug mit der Faust in den Schnee, so fein, so leicht, ohne Widerstand, flüchtig wie das Leben selbst. Sie spürte ihre Füße nicht mehr, ihre Jeans war nass, ihre Waden kalt. Wie lange dauerte es, bis man erfror? Würde sie überhaupt jemand vermissen? Ihre Mutter würde sie nicht lange überleben, ihr Vater war anscheinend ein Arschloch, Freunde hatte sie kaum. Clémi würde sich um Euphrat und Tigris kümmern, die kleinen Verräter hätten sie schnell vergessen. Simon hatte sie bloß ausgenützt und sie hatte es zugelassen, und selbst Florian wollte bei Emma bleiben, was sie traurig stimmte, sie ihm aber nicht nachtragen konnte, sie war nett, Emma. Hübscher als sie, freundlicher als sie. Nein, sie wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass ihre Beziehung kaputtging. Aber warum hatte es sie dann bei Simon nicht gestört, warum hatte sie dort nur darauf gewartet, dass er seiner Frau und seinem Kind eröffnete, dass er sie wegen einer Jüngeren verlassen wollte? Weil sie geglaubt hatte, es sei wahre Liebe, die alles rechtfertigte? Oder doch eher, weil sie insgeheim gewusst hatte, dass es nie passieren würde? Gott, wie sehr sie sich schämte. Sie legte den Kopf in den Nacken, ließ sich sanft nach hinten gleiten. Die Kälte störte sie gar nicht mehr, und dann, als ihr die Flocken ganz sanft aufs Gesicht fielen, bemerkte sie, dass der Wind nachgelassen hatte. Eine tiefe Ruhe überkam sie und sie schloss die Augen. Sie war einfach nur geblendet gewesen von Simon. Vielleicht war sie nicht einmal die Erste und auch nicht die Letzte gewesen. Langsam wischte sie mit ihren Armen nach oben und nach unten, öffnete und schloss ihre Beine. Aber das erinnerte sie an den Moment vor gerade mal etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, dieser Moment, in dem Florian unter ihr im Schnee gelegen hatte, sie auf ihm, Blödsinn im Kopf und ein unerklärliches Prickeln im Brustkorb, das ihr Herz nach einem Jahr Taubheit reanimiert hatte. Und da wollte sie es jetzt wieder absterben lassen? Hier liegen bleiben, ihr Leben aufs Spiel setzen?
»Nein«, sagte sie, und noch einmal, lauter: »Nein!« Sie würde sich nicht unterkriegen lassen, das hatte sie nicht verdient, das hatte ihre Mutter nicht verdient, ihre wunderbare Mutter, was musste sie sich für Sorgen machen? In einer Woche war Weihnachten, Buchstabensuppe, eine heiße Suppe, wie war sie überhaupt hierhergelangt, wie lange lag sie nun schon hier? Verwirrt strich sie sich den Schnee vom Gesicht, es war ein seltsames Gefühl, die kalten Finger auf den kalten Wangen zu spüren, und auf einmal war die Ruhe weg. Mühsam rappelte sie sich auf, fiel wieder hin, weil sie ihre Füße kaum spürte, aber sie musste sich bewegen. Musste hier weg, wo war ihr Telefon? Mit den starren Händen klopfte sie sich ab, betastete die Jackentaschen, Hosentaschen, sah nichts, fand nichts, wischte durch den Schnee, ein hoffnungsloses Unterfangen, vergiss es, sagte sie sich und merkte, wie ihr Körper sich jetzt, wo die Maschine wieder lief, erneut mit Zittern gegen die Kälte zu wehren versuchte. Sie klatschte in die Hände und hatte gleichzeitig Angst, sie würden zerspringen wie Porzellan. Bergauf oder bergab? Der Schneefall ließ immer mehr nach. Ein klein wenig Helligkeit drang durch die Wolkendecke, kaum der Rede wert, aber genug, um die Konturen besser zu erkennen. Tania hatte keine Ahnung, wo genau sie war; nach oben zu stapfen, das würde sie nicht schaffen, aber wenn sie nicht halluzinierte, dann sah sie unten ein verschwommenes oranges Lichtlein, vielleicht der Schein von Kerzenlicht in einem der Fenster des Dorfes. Ihr Kopf pochte. Sie stopfte sich eine Handvoll Schnee in den Mund. Einen Schritt vor den anderen setzen.
»Du kannst das«, feuerte sie sich selbst an und fühlte sich dabei so unfassbar schwerfällig, in Gedanken und Bewegungen, aber einen Schritt vor den anderen setzen, etwas anderes musste sie nicht tun. Nur das. Fuß hochheben, absetzen. Fuß hochheben, absetzen. Da, einer der roten Stecken. Jetzt zum nächsten. Rechts ging es steil bergab.
»Ich komme, Mama.« Ein Schritt.
»Es tut mir leid, Mama.« Ein Schritt.
»Ich werde auf dich aufpassen, Mama.« Ein Schritt.
Christbaum kaufen, ein Schritt.
Baumschmuck aus dem Keller holen, ein Schritt.
Sie keuchte vor Anstrengung.
Plätzchen backen, ein Schritt.
Ihr Zimmer bei Clémentine kündigen, ein Schritt.
Gar nicht weit unter ihr tauchten wie aus dem Nichts helle Flecken auf, als hätte jemand den Schalter umgelegt. Oder, sie musste lachen, als wäre einfach der Strom wiedergekommen.
Zurück zu Mama ziehen, ein Schritt.
Leise rieselt der Schnee. Ein Schritt.
Ein Geräusch durchbrach die Stille. Sie lächelte, war sicher, Florian gehört zu haben, Florian, der ihren Namen rief. Aber dann wurde das Geräusch lauter. Dröhnender.
Verwirrt sah sie sich um. Noch ein Schritt.
Sie trat ins Leere.