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22.12.2024

Wenn aus Winter Wärme wird - Teil 22

Wenn aus Winter Wärme wird – ein Winterroman mit viel Liebe, Spannung und Drama.
Mit ihrem Winterroman ,,Wenn aus Winter Wärme wird " nimmt die Autorin Astrid Töpfner die Leser mit auf eine spannende Reise in die schneebedeckten Schweizer Berge. Tauchen Sie ein in die Winterstimmung mit viel Gefühl und Drama – mit dem Kreuzlingen24-Adventskalender.

16. Dezember

Kati

Sie wusste nicht, ob sie jemals in ihrem Leben so gefroren hatte. Der Schnee hatte ihre Jeans von den Knien abwärts komplett durchnässt, war in ihre Winterstiefel eingedrungen, saß ihr in den Augenbrauen, den Wimpern, den Nasenlöchern. Die Kapuze schützte ihre Ohren nur mittelmäßig vor dem scharfkantigen Wind, und die Angst vereiste ihr Inneres mit jeder Minute, die sie durch die Dunkelheit stapften, ein klein wenig mehr. Sie müssten schneller vorankommen, schneller den Spuren im Schnee folgen, aber sie sanken ein, blieben stecken, mussten sich aneinander abstützen, und Kati fragte sich, wie Tania ihnen so weit voraus sein konnte. Aber dann: Sie hatten ja auch viel zu spät gemerkt, dass sie das Hotel verlassen hatte.

»Wir sind zu langsam, wir hätten die Schneeschuhe nehmen sollen«, schrie Chasper und richtete die große Taschenlampe, die er auf dem Weg hinaus aus einem Schrank geholt hatte, zurück, wohl abwägend, ob es sinnvoll wäre, sie zu holen. Aber das Schneetreiben war so dicht, dass das Licht von den kleinen spitzen Flocken reflektiert wurde. »Zum Glück war sie schlau genug, der Straße zu folgen und nicht in den Wald zu gehen.«

»Dort liegt weniger Schnee«, erwiderte Kati keuchend.

»Aber es gibt ein steiles Tobel. Wenn sie vom Weg abkommt, läuft sie direkt hinein.«

Was für ein Trost, dachte Kati, wischte sich die Schneeflocken aus den Augen und schielte nach rechts, dort, wo die Straße abrupt in den Abhang überging. Ein falscher Schritt konnte hier genauso verhängnisvoll sein, und die vereinzelten Bäume und Sträucher, die die Sicht auf die Straße weiter unten verdeckten, würden einen Sturz nicht weniger schmerzvoll machen.

»Tania!«, rief sie, aber der Wind nahm ihr das Wort aus dem Mund und blies es in die falsche Richtung. Sie vergrub die Hände noch tiefer in den gefütterten Taschen von Onnas Jacke, dachte an den Kreis, den Chasper schließen musste, und fragte sich, wie ihr eigener Kreis mit Chasper aussah. Klein und fast beendet? Oder groß und gerade erst begonnen? Gab es eine Zukunft für diese Blicke, die Herzflattern auslösten, für die gar nicht so zufälligen Berührungen, die den Atem stocken ließen, oder waren diese Gefühle nur durch den Druck dieses Schmelztiegels entstanden, in dem sie sich befanden? Sie konnte sich nicht erklären, was es war, das sie so anzog, was anders war als sonst, außer: Er hatte sie auf einer ganz anderen Ebene gepackt, einer, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie existierte, nenn es metaphysisch, zwischenweltlich oder einfach: an dem Punkt ihrer Seele, der dafür zuständig war, diesen einen Menschen zu erkennen, der einen selbst ergänzte. Sie wollte so sehr, dass er dasselbe fühlte.

»Mist!«, unterbrach Chasper die Melodie ihres Wunschkonzertes und klammerte sich an Katis Arm fest, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor. Er zischte etwas ihr Unverständliches, wahrscheinlich Rätoromanisch, und drückte ihr die Taschenlampe in die Hand, um gleich darauf wiederholt die Finger zur Faust zu ballen und wieder zu öffnen. »Knöchel«, stieß er hervor. »Auf den Steinbrocken am Rand getreten.« Er fluchte weiter, versuchte aufzutreten und stützte sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihre Schulter. »Müssen weiter, Kati, wir müssen sie finden!«

»Ich weiß.« Hilflos sah sie sich um, wie sollte das gehen? Dabei merkte sie, dass sowohl der Wind als auch der Schnee in den letzten paar Minuten deutlich nachgelassen hatten. Dem Himmel sei Dank! Sie wischte sich mit der klammen Hand über das Gesicht und presste mit den Unterarmen die Innenseite der Kapuze gegen die Ohren. Es schmerzte, sie überhaupt zu berühren.

»Tania!«, rief sie wieder und glaubte, von irgendwo ein Geräusch zu hören, das sie nicht einordnen konnte, schwenkte den Strahl der Taschenlampe in die Richtung und beleuchtete dabei einen der roten Stecken, und dahinter …

»Warte«, wies sie Chasper an und watete ein paar Meter vor, zerrte und ruckelte und zog an dem Holzstab, bis sie ihn aus dem Boden gerissen hatte, und reichte ihn Chasper nach hinten. »Schau mal, hier vorn, der Schnee ist ganz zerwühlt, sie muss auch gefallen sein. Tania? Bist du hier?« War sie verletzt? Ohnmächtig? Aber dann besah sie sich die Stelle genauer. »Das ist ein Schneeengel«, sagte sie erstaunt und erkannte auch, dass die Fußspuren weiter bergab führten.

Chasper kam schwerfällig zu ihr gehumpelt. »Immerhin scheint sie sich beruhigt zu haben, wenn sie sich dafür Zeit genommen hat.« Er schien erleichtert und gleichzeitig verärgert. »Was hat sie sich dabei nur gedacht? Wahrscheinlich sitzt sie schon längst bei Gion in der Kneipe! Ich hoffe es, Kati, ich hoffe es«, fügte er leise hinzu und tat humpelnd einen Schritt, wie um zu zeigen, dass seine Möglichkeiten eingeschränkt waren.

»Da!« Kati wies nach unten. »Das Licht! Es gibt wieder Strom!« Straßenlampen und Fensterbeleuchtungen schimmerten von einer Sekunde auf die andere orange durch die diffuse Dunkelheit, und Kati entfuhr ein Wimmern, ein seltsames Geräusch zwischen erschöpftem Weinen und dankbarem Lachen, und bevor sie wusste, was sie tat, umarmte sie Chasper. Da waren Jacken und Pullis und Haut und Muskeln zwischen ihnen, und doch war ihr in dem Augenblick, als wären sie eins. Sanft legte auch er einen Arm um sie. Sein warmer Atem streifte ihr eiskaltes Ohr und ausgehend von der Stelle schien ihr ganzer Körper aufzutauen.

»Tania«, hörte sie dann von weiter oben, vom Chalet. »Chasper, Kati!« Warum schrie Florian so? Und dann drang dieses Brummen wieder zu ihr, von unten, ein Auto irgendwo, aber wie war das möglich?, und dann ein dumpfer Knall, über ihnen, neben ihnen, Kati konnte es nicht sagen und schüttelte nur verwirrt den Kopf, erst überall Stille und plötzlich alles auf einmal. Chasper versteifte sich in ihren Armen, als ein Geräusch erklang, ein gewaltiges Wischen; Gefahr lag wie Elektrizität in der Luft und Kati keuchte erschrocken, als sie im Schein der Lichter die Schneewolke sah, die vom Berg herab in Richtung Dorf stob. Sie glaubte, nur ihren Arm ausstrecken zu müssen, um sie berühren zu können.

»Ist weit weg«, sagte Chasper und sie spürte, wie er sich entspannte. »Zweihundert Meter, auf dem anderen Berghang. Tania ist in die entgegengesetzte Richtung …« Er zeigte die Straße entlang, und dort schoben sich eben zwei Lichtstreifen um die Kurve, gefolgt vom tiefen Brummen eines dicken Motors. Kati identifizierte es als das Geräusch, das sie vorhin schon vernommen hatte. Eine orange Schaufel schob den Schnee vor sich her, und als der Schneepflug näherkam, schrie sie auf.

»Tania!«

Der Traktor blieb tuckernd stehen und eine Frau sprang aus dem Fahrerhäuschen.

Chasper humpelte auf sie zu. »Du hast sie gefunden, Lotti, Gott sei Dank, geht es ihr gut?«

»Gefunden?« Die Frau lachte ein rauchiges Lachen. »Die ist mir zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden vor den Schieber gepurzelt, verrückte Unterländerin!«

»Aber wie kommst du dazu, hier zu pflügen und nicht auf der Hauptstraße?«

Kati hörte nur mit halbem Ohr zu, wie Lotti erklärte, dass Kneipen-Gion sie aufgesucht habe, weil ein scheinbar sehr gestresster Tourist ihn angerufen und um Hilfe gebeten habe, da ein Gast aus dem Ruhehotel durch den Schnee irre. »Da dachte ich, ich mach mal die Straße hier frei; wenn sie ein bisschen schlau ist, wird sie wohl eher bergab laufen als bergauf zu kraxeln. Auch wenn ich noch nicht verstanden habe, was das Mädel bei dem Wetter draußen zu suchen hat.« Sie schüttelte den Kopf, während Kati in den Führerstand kletterte, wo Tania wie ein nasses Häufchen Elend saß und unkontrolliert zitterte.

»Alles gut«, flüsterte sie ihr zu, und Tania nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

»Ich will … zu meiner … Mutter«, hauchte sie stoßartig.

Chasper und Lotti unterhielten sich immer noch mit angespannten Gesichtern, gestikulierten nach oben und dann zu der Stelle, an der die Lawine abgegangen war.

»Könnt ihr das später besprechen?«, unterbrach Kati sie und deutete auf Tania. »Sie sollte dringend in die Wärme. Wir alle, denke ich. Ich laufe hinterher, aber Chasper …«

»Fuß verknackst«, gestand er Lotti zähneknirschend.

Die nickte unbeeindruckt. »Siehst aus wie Moses mit deinem Stock. Dann teil doch bitte mal das Wasser, auch wenn es gefroren ist, ja?«

Fünfzig Meter vor dem Chalet, dort, wo die Straße in das Plateau überging, stand bereits Florian, und auf der von der Lichterkette beleuchteten Terrasse konnte Kati Rebekka und Martha ausmachen.

Lotti tuckerte an ihm vorbei, schob den Schnee der letzten Gerade zur Seite, tanzte mit ihrem Pflug hin und her, bis sie gekehrt und damit den Parkplatz halbwegs freigeschaufelt hatte. Chasper half Tania nach unten, wo Kati sie in Empfang nahm und sie direkt in Florians Arme schob, der sie mit einer Selbstverständlichkeit an sich zog, als wären sie seit Jahren ein Paar. Wo war Emma? Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, dann führte er sie zur Terrasse, stützte sie, als er merkte, wie unsicher sie auf den Beinen war, und übergab sie Rebekka, an die sie sich mit bebenden Schultern schmiegte wie ein Vögelchen in sein Nest.

Kati sah Lotti hinterher, die mit ihrem Pflug wieder bergab fuhr, und spürte, wie die Spannung langsam aus ihr floss und dafür die Müdigkeit mit voller Wucht Besitz von ihr ergriff.

»Wir sind alle wieder hier«, sagte sie leise und malte mit der Schuhspitze unbeholfene Kreise in den plattgedrückten Schnee vor ihr. Ihre Füße waren Eisklumpen. »Anders als noch gestern und doch dieselben.« Sie sah auf. Alle bis auf Chasper waren wieder im Inneren des Chalets verschwunden, die Ruhe war zurückgekehrt. Sie nahm seine Hand, und gemeinsam humpelten sie in Richtung Eingang, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und abrupt stehen blieb.

»Schau nur, Chasper«, wisperte sie. Hinten am Waldrand, an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit, stand ein Reh und sah zu ihnen her. Ganz langsam hob Chasper die Hand zum Gruß und Kati tat es ihm gleich. Dann senkte das Tier seinen Kopf, als würde es nicken, und sprang leichtfüßig in den Schatten der Tannen. Chasper atmete lang aus, lehnte seine Stirn an Katis und schloss die Augen.

Wenn aus Winter Wärme wird

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Astrid Töpfner

Astrid Töpfner wurde 1978 in der Schweiz geboren und wohnt sie seit 2005 mit ihrem Mann und den zwei Söhnen in Spanien. In ihren Geschichten spielen oft Familien und deren tief verwurzelte Konflikte eine grosse Rolle; wie unterschiedlich Personen mit Themen wie Liebe, Verlust, Eifersucht oder Schuldgefühlen umgehen. Es sind keine klassischen Liebesromane, aber dennoch spielt die Liebe immer mit - denn ganz ehrlich: Was wären wir schon ohne?

www.astrid-topfner.com / www.instagram.com/astrid_topfner

Astrid Töpfner