24. Dezember
Tania
»Hast du den Eimer mit Wasser gefüllt?«, rief Rebekka aus dem Wohnzimmer; es war schon das dritte Mal, dass sie die Frage stellte, und Tania verdrehte amüsiert die Augen.
»Ja, Mama. Steht hinter der Tür. Wie immer.« Und in ihr Telefon sagte sie: »Ich muss jetzt, es geht los. Gib mir Bescheid, wenn du morgen in Zürich ankommst.«
»Mach ich«, sagte Florian. »Frohe Weihnachten.«
»Frohe Weihnachten!«
Es kribbelte gleichzeitig hinter ihren Lidern und in ihrem Herzen; sie atmete bewusst ganz tief ein und aus, um beides wieder unter Kontrolle zu bekommen. Den Schmerz, das letzte Weihnachtsfest mit ihrer Mutter zu feiern, und die Freude, mit Florian eine neue Etappe beginnen zu können, auch wenn sie sich darauf geeinigt hatten, sich langsam kennenzulernen. Ende und Anfang lagen so nah beieinander. Tania straffte ihre Schultern und ging zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer.
»Da bist du ja endlich. Wollte Florian dich nicht gehen lassen?«, neckte Rebekka sie.
»Ha, ha«, sagte Tania und machte sich an ihrer Playlist zu schaffen, damit ihre Mutter nicht sah, wie sie rot wurde.
»Ich soll dir liebe Grüße von Emma ausrichten, sie hat mir vorhin eine Nachricht geschickt.«
»Hm«, sagte Tania. Sie fühlte sich nicht ganz wohl beim Gedanken an Emma, auch wenn diese ihr in den vergangenen Tagen mehrfach versichert hatte, dass sich die Trennung von Florian nach dem ersten Schock richtig anfühlte und sie ihnen alles Gute wünschte.
»Martha verbringt das Fest mit der Familie ihrer Schwester«, informierte Rebekka weiter. »Wird wahrscheinlich nichts daraus, ihre Ehe zu retten, die Arme. Oder auch nicht arm, vielleicht tut es ihr gut, sich zu lösen und selbstständiger zu werden, statt an ihrem Mann oder Kati zu hängen.«
»Und hast du auch von Kati und Chasper gehört?«, fragte Tania und drückte auf Play. Die ersten Klänge von Stille Nacht, Heilige Nacht ertönten. Sie nahm sich ein Vanillekipferl, von denen sie gestern mit ihrer Mutter zwei Bleche gebacken hatte, süß und im Mund buttrig schmelzend.
»Ts, doch nicht vor dem Essen!«, rügte Rebekka sie und steckte sich dann selbst genießerisch eins in den Mund. »Hier«, sagte sie dann und hielt Tania ihr Telefon hin. »Hat sie mir vor einer Stunde geschickt. Die letzten Gäste sind am Mittag abgereist und bis nach den Feiertagen bleibt das Chalet geschlossen.«
Auf dem Selfie saßen Kati und Chasper warm eingepackt an einem der Tische auf der Terrasse, so eng nebeneinander, dass keine Schneeflocke zwischen sie gepasst hätte. Sie hatten eine der jungen Tannen am Waldrand von der weißen Pracht befreit und mit einer Lichterkette dekoriert, die warmes Licht spendete. Obwohl das Bild Ruhe und Liebe ausstrahlte, setzte sich ein Kloß in Tanias Hals fest, als sie daran dachte, wie sie dort blind und mit der ganzen Welt hadernd durch die Kälte gestapft war.
»Manchmal steht man sich einfach selbst im Weg«, murmelte sie und umarmte ihre Mutter, die wohl genau wusste, wovon sie sprach.
»Aber zum Glück gibt es Menschen, die einen an der Hand nehmen, wenn man nicht mehr weiterweiß«, flüsterte sie, drückte Tania einen liebevollen Kuss auf die Stirn und schob sie sanft von sich. »Jetzt die Kerzen, ja?« Sie wirkte hibbelig wie ein kleines Kind, das auf die Bescherung wartete, dabei hatten sie dieses Jahr beschlossen, sich nicht einmal die üblichen zwei kleinen Präsente zu machen. Denn die Zeit, die sie miteinander verbringen konnten, war das kostbarste Geschenk von allen.
Vorsichtig nahm Tania zwei der weißen Baumkerzen von den Zweigen, zündete sie an, gab ihrer Mutter eine, und so hielten sie die brennenden Dochte an all die übrigen, bis der Raum im weichen Licht der Flammen leuchtete. Dann tippte sie auf ein neues Lied in ihrer Playlist.
»Leise rieselt der Schnee«, sang Rebekka mit, während Tania mit Tränen in den Augen vor dem Baum stand, die Stimme ihrer Mutter in sich aufsog und auf ewig speicherte.
»Lass mich sehen!«, bat Rebekka kichernd, als sie später beim Abendessen saßen, und zog an Tanias Hand.
»Warte«, ermahnte sie ihre Mutter, fischte mit der Gabelzinke den letzten Buchstaben aus ihrer Suppe und legte ihn auf den Teller. Ihre Mikrogeschichte war fertig, die Zusammenfassung des letzten Wochenendes:
WENN ES WINTER WÄRME WIRD